Die ganze Welt der Familien

Vom „Wohlfühl- bis zum Anliegen-Buch“: Kinderbücher bieten sich ihren Leserinnen heute als Begleiter in allen Freuden und Nöten an.

Patriarchen sind out. Auch Mädchen, die nur zugucken, wenn Jungen handeln. Dafür sind berufstätige Mütter und starke Mädchen in. Oder Mütter ohne Männer. Stiefväter. Und manchmal Väter, die zu viel trinken. Mit anderen Worten: Die Familien-Welt in Kinderbüchern spiegelt heute die ganze Breite der Wirklichkeit. Eine vorherrschende Familienform gibt es nicht. Vom klassischen Bilderbuch (für Null- bis Sechsjährige) über das Erstleserbuch (für Sechs- bis Neunjährige) bis zum Kinderbuch für bis 12-Jährige, orientieren sich die Themen am Kinderalltag, an den aktuellen Interessen der Zielgruppen und an den pädagogischen Zielen von Eltern, Erzieher- und Lehrerinnen. Immerhin zeichnen sich im aktuellen Angebot einige Akzente ab.

Wohlgefühle unter Kuscheltieren

Beliebt sind Bücher, in denen das Wohlfühlen in familiären Kontexten im Vordergrund steht. Als prototypisches Beispiel kann die Bärengeschichte von Ursel Scheffler mit Bildern von Ulises Wensell »Ich mag dich sehr, kleiner Bär« gelten (Ravensburger Buchverlag, für Kinder ab 3): Der kleine Bär Wolle ist erleichtert. Wenn seine Schwester wieder so frech ist, ihn »Schlammlochschmeißer« zu nennen, dann kann das nur heißen: Sie hat sich von ihrer Erkältung erholt. Und Wolle muss nicht länger ein schlechtes Gewissen haben, weil er nicht auf sie aufgepasst hat. So ähnlich funktionieren viele Wohlfühlbücher. In einem geschlossenen familiären System mit Mutter, Vater und meist einem Bruder oder einer Schwester spielt sich eine kleine Handlung ab, die nach kleinen Aufregungen gut ausgeht und mit einer positiven Bestätigung für alle Beteiligten endet. Diese Geschichten sind vor allem in der klassischen Bilderbuchform anzutreffen — mit großformatigen, teilweise zweiseitigen Illustrationen, kurze Vorlesetexten mit Anreizen zum Darüber-sprechen und Nachfragen. Meist spielt die Handlung in der Tierwelt; so können Kinder sich leicht in die Figuren einfühlen. Die Erinnerung an das weiche Fell der eigenen Kuscheltiere spielt dabei eine wichtige Rolle.

Anna hat zwei Kinderzimmer

Unvollständige Familien, Trennungs- und Scheidungssituationen oder das Einleben in eine neue Familie haben seit einigen Jahren einen festen Platz in der Familien-Welt der Kinderbücher. Allerdings drängt sich des Öfteren die Frage auf, wie realistisch und tauglich die geschilderten Bewältigungs-Versuche sind.

»Ich hab euch beide lieb« lautet der Titel des Bilderbuches von Claire Masurel (Brunnen Verlag, ab 4). Vorgestellt wird das Leben der kleinen Anna, deren Eltern getrennt

leben. Annas Leben spielt sich bei Vater und Mutter gleichermaßen ab. Sie hat in zwei Wohnungen ihre Kleiderhaken, ihr Zimmer, überall ein Telefon und eine gemütliche Ecke. Sicherlich zeigt das Buch, dass trotz getrennter Eltern manches positiv bleibt. Der Alltag ist jedoch so deutlich ausgeblendet, dass die Geschichte wenig glaubwürdig wirkt.

Gelungener packt Jana Frey in »Katervaterhasensohn« das Thema Adoptivvater und das Hineinfinden in eine fremde Familie an (Ravensburger Buchverlag, ab 4). Kasimir verliert bei der Flucht vor dem Fuchs seine Hasenfamilie. Er sucht einen Ersatzvater und findet einen Kater, der ihn anfänglich widerstrebend, letztlich aber sehr liebevoll aufnimmt und ihm die wichtigsten Dinge des Lebens zeigt. Als Kasimir durch einen glücklichen Zufall seine Familie wieder findet, versucht er, beide Väter zu behalten.
Eine ähnliche Thematik greift Rien Broere in »Tim gehört zu uns« auf (Ellermann-Verlag, ab 5). Als die Lehrerin mit ihren Schülern über Geburt und Herkunft spricht, fühlt Tim sich als Außenseiter. Er stammt aus Asien; als fast Einjähriger wurde er von seinen Adoptiveltern in einem Kinderheim abgeholt. Doch als er seiner Mutter das Herz ausschüttet, kommt sie auf die Idee, Tims Klasse die Adoptionsgeschichte mit Videoeinspielungen aus seinem Geburtsland zu erzählen. Jetzt sind seine Klassenkameraden stolz auf ihn.

Zerrissen bis in die Sahara

Zunehmend kommen seit ein paar Jahren Bücher auf dem Markt, in denen das besondere Verhältnis von Kindern zu einem Elternteil aufgegriffen wird. Dabei geht es schon mal sehr turbulent zu wie in Jutta Bauers »Schreimutter« (Verlag Beltz&Gelberg, ab 4). Der kleine Pinguin ist vom Zorn der schreienden Mutter so erschrocken, dass. er sich buchstäblich zerrissen und über die ganze Welt verstreut fühlt. Die Füße landen in der Wüste Sahara; bis dorthin muss die Mutter laufen, als sie sich um Verzeihung bemüht, und die Einzelteile ihres Sprösslings wieder zusammensetzen will. Die Reue der Mutter wird deutlich in diesem Buch, das gute Ansätze bietet, um über Trost, Schuld und Versöhnung zu reden.
Ein sehr empfehlenswertes Bilderbuch hat Ulf Stark unter dem Titel »Als Papa mir das Weltall zeigte« vorgelegt (Carlsen Verlag, ab 5; Empfehlungsliste Katholischer Kinder- und Jugendbuchpreis 2001). Bei dem Versuch, dem kleinen Sohn das Weltall zu zeigen, lassen sich Vater und Sohn regelmäßig auf einer Wiese nieder. Die Entdeckungen von kleinen und großen Sternen vermitteln auch einen Einblick in die Größe der Schöpfung. Die friedliche Abendstimmung im Bilderbuch wird sich sicher auch auf die familiäre Vorlesesituation auswirken.

Existentielle Themen

Immer wieder greifen die AutorInnen von Kinderbüchern Probleme auf, die Kinder, ihre Eltern oder die Familie insgesamt existenziell betreffen und gefährden. Manchmal kehren sie dabei die gewohnten Verhältnisse geradezu um: Die Kinder werden zu Stützen für ihre Eltern. Wie in »Ramona hilft Papa« von Beverly Cleary (Klopp-Verlag, ab 9): Ramona entwickelt eine beträchtliche Kreativität, um dem gerade arbeitslos gewordenen Vater den Alltag erfreulich zu gestalten. Gleichzeitig achtet sie mit ihrer Schwester darauf, der jetzt ganztägig arbeitenden Mutter mit kleinen Hilfen zur Seite zu stehen. Trotz ihrer Situationskomik spiegelt die Geschichte Alltagsprobleme vieler Kinder. Eine ähnliche Konstellation schildert Susan Hart Lindquist in »Hund sucht Familienanschluss« (Überreuter-Verlag, ab 9). Der Vater von James und Sary lebt nach dem Tod seiner Frau in Trauer. In ihrer Sorge um einen von Schafhütern gejagten Hund lernen sie sich um etwas Neues zu kümmern.

Trauer um ein verlorenes Familienmitglied steht auch im Mittelpunkt von Torun Lians »Es sind die Wolken, die die Sterne bewegen« (kleiner bachmann verlag, ab 10; Empfehlungsliste des Katholischen Kinder- und Jugendbuchpreises 2001). Während die Eltern nach dem Tod von Pilten in Depression und Lethargie verfallen, überlegt Maria, ob vielleicht sie statt ihres Bruders hätte sterben sollen. Ihre Gespräche mit dem feinfühligen und klugen Jakob helfen ihr aus der Isolation; trotz ihres erschütterten kindlichen Glaubens findet sie wieder zu neuer Zuversicht.

Berichte aus dem Kinderheim

Nach einer Idee von Susanne Engl entstand »Lisa ... und dann kam ich ins Heim« (Verlag Bunte Hunde, ab 6). Die vom alkoholabhängigen Vater misshandelte Lisa und sechs weitere junge Bewohner erzählen ihre eigenen Familiengeschichten und ihre Heimbiographie. Auch die Illustrationen stammen von ihnen. Die authentischen Berichte eignen sich in besonderer Weise für Kinder, Eltern und Erzieher, die miteinander diese Lebenssituation ansprechen wollen und nach Erklärungen suchen.

In »Pelle und die Geschichte mit Mia« von Kari Vinje (Brunnen-Verlag, ab 8 Jahre) entdeckt der kleine Pelle eines Morgens, dass die kleine Schwester Mia tot im Bett liegt Einfühlsam wird nicht nur das Zusammenbrechen von Gefühlswelten beim Bruder, den Eltern und im Freundeskreis erzählt. Das Buch bietet auch eine kindgerechte, dem christlichen Glauben genügende Vorstellung vom Leben nach dem Tod. Und die Restfamilie geht ihren Trauerweg gemeinsam.

Auch wenn Kinder im Bilderbuchtrog einer Bücherei meist nicht selbst zu solchen Titeln greifen: Diese »Anliegenbücher« bieten Eltern die Chance, Sorgen und Nöte der Kinder aufzugreifen und behutsam anzusprechen.

Rolf Pitsch