Das Rätsel der richtigen Bücher

Was gute Kinderliteratur auszeichnet. Und warum Kinder manchmal auch weniger gute brauchen.

Welche Qualitäten muss ein Buch haben

Das gute Kinderbuch: Gibt's das? Unzählige Gelehrte, Kritiker, Leseförderer, Bibliothekare und Bibliophile haben sich den Kopf darüber zerbrochen und doch keine Definition gefunden, nach der sich ein für allemal und zweifelsfrei die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen sortieren ließen. Kein Wunder. Die beiden Variablen in dieser Aufgabe »Kind« und »Buch« lassen sich nämlich ungern festlegen und definieren. Genauso wenig wie »das gute Kind« lässt sich »das gute Buch« als solches beschreiben — und oft genug stehen Eltern und andere Experten kopfschüttelnd vor der Erfahrung, dass ein »gutes« Kind und ein »gutes« Buch offensichtlich nicht zusammen passen. Andererseits gibt es genauso offensichtlich eine Vielzahl von geglückten Begegnungen zwischen Kind und Buch. Die eigentlich lohnende Frage kann also nur heißen: Welche Qualitäten muss ein Buch haben, damit diese Begegnung gelingt?

Ein paar Kriterien bieten sich an

Aber, um es gleich zu sagen: Mitunter kommen bei Kindern gerade die Bücher an, die scheinbar (?) quer zu allen Kriterien stehen ...

Das Fremde und das Eigene

Das erste, worauf Käufer- und Leserinnen bei einem Buch gucken, ist das Thema. Worum geht es? Welche Materie wird bearbeitet? Zwei Pole spielen dabei eine Rolle, ganz gleich, ob es sich um ein Pappbilderbuch für die Allerkleinsten, einen dicken Jugendroman oder auch um ein Sachbuch handelt: Der eine Pol ist »das Eigene«, der andere »das Fremde«.

Das Eigene: Jedes Buch, das bei einem Kind im wörtlichen Sinne an-kommen soll, muss etwas in sich bergen, was das Kind wieder erkennt oder womit es sich identifizieren kann. Bei den Pappbilderbüchern sind es die alltäglichen Baby-Sachen, im Jugendroman die Hauptfiguren, mit deren Lebenssituation sich die jungen Leserinnen identifizieren können. Wenn einem Buch dieses Eigene als Anknüpfungspunkt fehlt, dann wird es kaum eine große Leserschaft finden. Das Kind muss Dinge, Situationen, Gefühlswelten wieder erkennen, damit es sich in ein Buch »einklinken« kann.

Das Fremde: Dieses »Einklinken« ist zugleich die Voraussetzung für das Einlassen auf die große fremde Welt, die sich in der Kinderliteratur auftut. Dabei geht die Reise in die Vergangenheit und die Zukunft, in phantastische und märchenhafte Welten, in fremde Länder, Kulturen, Religionen. Aber das Fremde findet sich nicht nur in der Vielfältigkeit der äußeren Welt; denn Bücher bieten auch die Möglichkeit, in die Gefühlswelten anderer Menschen hineinzusehen, Weltsichten kennen zu neue Denkweisen und Das Eigene und lernen. Und nicht nur das Fremde was die Figuren erleben, sondern auch wie sie es erleben ist interessant. Dabei bleiben die Leserinnen auf der sicheren Seite, sie können sich mit dem Gelesenen auseinandersetzen, identifizieren oder sich abgrenzen.

Die Sprache eines Buches

Eigenes und Fremdes begegnet Kindern auch in der Sprache eines Buches; sie ist sein zweites Qualitätsmerkmal. Einerseits muss sie dem Sprachniveau von Kindern angepasst sein, kann aber auch ein Stück weit darüber hinausgehen.

Bei Bilderbüchern, die meist von Erwachsenen vorgelesen werden, kommt es auf einen einfachen Satzbau und eine angepasste Wortwahl an. Das gilt ähnlich für die Sprache von Büchern für Erstleserinnen. Schwierige Wörter und Buchstabenkombinationen oder ein komplizierter Satzbau könnten die Freude am eigenen Lesen, die doch eigentlich geweckt werden soll, schnell verderben. Ein gutes Erstlesebuch zu schreiben erfordert ähnlich viel Arbeit wie ein gutes Gedicht!
Dabei kann eine einfache, verständliche Sprache durchaus differenziert und poetisch sein. Der Klang von Wörtern kann Stimmungen und Aussagen transportieren und vielfältig abwandeln. Sogar »große« Lyrik findet ihren Platz im Kinderzimmer — wie die Gedichte Ernst Jandls, die Norman Junge (etwa in »fünfter sein«) zu Bilderbüchern verarbeitet hat; sie vereinigen Einfachheit und Niveau.
Ältere Kinder fühlen sich besonders angesprochen, wenn sie ihre eigenen typischen Satzverdrehungen oder Ausdrucksweisen wieder finden. Ein gutes Beispiel bieten die Bücher von Kirsten Boie (etwa mit dem mehrfach wiederholten Satz »Das ist ja wieder mal typisch ungerecht« in »Alles ganz wunderbar weihnachtlich«). Sie schaut den Kindern wirklich »auf's Maul«, gibt ihre Sprache authentisch mit einem leisen ironischen Unterton wieder und grenzt sich so deutlich von Kindertümelei ab. Im Gegensatz dazu steht die anbiedernde Sprache mancher Jugendbuch-Autorinnen, die den »coolen« Jargon ihrer erhofften Leserschaft nur kopieren und damit Interesse für (aus ihrer Sicht!) unpopuläre Themen wecken möchten: »Eine krasse Hausaufgabe. Was passiert, wenn Teens fragen, was Jesus will ...«. Diese Ausdrucksweise wirkt sehr schnell hohl, weil ihr das Authentische fehlt.

Illustrationen visualisieren eine Geschichte

Am krassesten scheiden sich die Geister häufig bei der Beurteilung von Kinderbuch-Illustrationen. Nicht nur Eltern und Großeltern, die Kinderbücher kaufen, sondern auch »fachkundige« Kritikerinnen finden dafür keine eindeutigen Maßstäbe. Natürlich sollen/müssen Illustrationen ähnlich wie die Sprache den Inhalten und den jeweiligen Stimmungen entsprechen. Im Idealfall »bebildern« sie eine Geschichte aber nicht einfach. Illustrationen eröffnen fast unendliche Möglichkeiten, eine Geschichte zu visualisieren, mit Farben, Formen, Licht, Schatten, Transparenz und Leuchtkraft Aussagen zu machen, die die Möglichkeiten der Sprache übersteigen. Manchmal erzählen sie auch ihre ganz eigene Geschichte neben der eigentlichen her oder erzählen andere Geschichten am Rand. So fordern sie dazu heraus, genau hinzusehen und sich aus einem möglicherweise ganz neuen Blickwinkel mit dem Inhalt eines Textes auseinanderzusetzen.
Dabei schließen sich »kindgerecht« und »künstlerisch anspruchsvoll« keineswegs aus. Viele Erwachsene vergessen, dass die Sehgewohnheiten der Kinder, auch wenn sie durch die Medien stark geprägt sind, viele Möglichkeiten offen lassen. Kinder sind viel weniger eingefahren. Das Anschauen guter Illustrationen kann zu einer ersten wichtigen Erfahrung mit Kunst werden!
Gute Illustrationen erreichen die Seele direkt und unvermittelt, sie bedürfen keiner weiteren Erklärungen. Dabei wahren sie eine »Offenheit«, die Kinder mit ihrer Fantasie füllen können. Das zeigt sich sehr gut bei religiösen Bilderbüchern. Wenn die Illustratorin Constanza Droop in dem bunten Bilderbuch vom »Barmherzigen Vater« die Figuren einschließlich Jesus aussehen lässt wie kernige münsterländische Bauern, dann täuscht sie über den Charakter der Geschichte hinweg — falsch besetzt, würde man bei einem Theaterstück sagen. Dagegen zeichnet Eleonore Schmid durch sehr dunkel gehaltene Radierungen den Figuren das Leid und die Schwere förmlich ins Gesicht und trifft so den symbolischen Kern dieser Geschichte. Droops Buch ist sicher zunächst ansprechender und leichter zugänglich, doch werden Schmids Illustrationen (»Der verlorene Sohn«) tiefere Spuren in der Seele von Kindern hinterlassen.

Die Intention des Verfassers

Das vierte Merkmal guter Kinderbücher ist eine tiefer liegende Aussage, die sich durch Text und Bilder gewissermaßen hindurch scheint. Dieses »Anliegen«, die Intention des Verfassers ist nicht mit dem vordergründigen Thema zu verwechseln.
Eine Aussage kann durch verschiedene Themen realisiert werden; so kann ein Bilderbuch zum Thema Tod die Frage nach dem Sinn des Lebens genauso stellen wie ein Mädchenroman zum Erwachsenwerden. Die Aussage ist das, was hinter einem Buch steht. Ohne diese tiefere Dimension wirken Geschichten oft flach und leblos.
Vielen Erwachsenen ist die Suche nach solchen Aussagen durch das Interpretieren im Deutschunterricht gründlich verleidet. Aber diese Schulmeisterei muss nicht sein, im Gegenteil: Kinder nehmen die Aussagen eines Buches intuitiv auf und sammeln so nach und nach einen Schatz von Lebensweisheiten.
Manchmal ist die Aussage auch »nur« ein Lebensgefühl. Vielleicht ist es das, was die Bücher von Astrid Lindgren so allseits beliebt macht: die Kraft eines positiven Lebensgefühls, das zwischen den Zeilen hervorscheint. Ihre Bücher strahlen Wärme und Geborgenheit aus, das Gefühl, angenommen zu sein. Selbst wenn sie traurige Geschichten erzählen wie die der Brüder Löwenherz, hinterlassen sie doch noch einen Widerschein von der Schönheit der Welt.

Allerdings muss es nicht immer ein positives Lebensgefühl sein; das wäre der Wirklichkeit nicht angemessen. Die Atmosphäre, die ein Buch schafft, kann dem Zeitgeist entsprechen, kann ihn aber auch kritisch hinterfragen oder gar karikieren. AutorInnen lassen darin, gewollt oder ungewollt, ihre eigene Sicht des Lebens einfließen — positiv oder negativ, fröhlich oder traurig, lebensbejahend oder -verneinend. Vielleicht versuchen sie auch, in eine ganz bestimmte Sicht hineinzuschlüpfen, zum Beispiel die eines Kindes, das in einer anderen Zeit gelebt hat. Ob und inwiefern das schlüssig gelingt, ist sicher ein Kriterium für die Qualität eines Kinderbuchs. Ob und inwiefern dieses Lebensgefühl für ein ganz bestimmtes Kind in einer ganz bestimmten Lebenssituation eine Bereicherung oder eher eine Belastung darstellt, ist allerdings eine ganz andere Frage.

Der Idealfall

Im Idealfall ergänzen sich Inhalt, Sprache und Illustrationen zu einer Gesamt-Aussage, in der alles durchdacht und aufeinander abgestimmt ist — ohne dass die Leserinnen diese Arbeit spüren. Gute Bücher wirken als ganzes und finden ganz unkompliziert ihren Weg in das Herz der Kinder. Aber, wie schon angedeutet: Es gibt Bücher (und Kinder), die alle Kriterien über den Haufen werfen.
Wie die beiden Lieblingslektüren der dreijährigen Frieda: Die eine ist ein kleines Pappbilderbuch für ein paar Mark fünfzig aus dem Supermarkt. Hänsel und Gretel, erzählt in kurzen Reimen nach dem Motto »Reim dich oder ich fress dich«, nett bebildert ohne jeglichen künstlerischen Anspruch. Dieses Buch muss ihr immer wieder vorgelesen werden. Warum bloß? Weil es jedesmal wieder eine Genugtuung ist, wie die Hexe in den Ofen geworfen wird und direkt daneben Hänsel und Gretel grinsend bei ihrer überquellenden Schatzkiste stehen. Das Gute siegt über das Böse, die übermächtige Bedrohung hat den verdienten knockout bekommen. That's life.
Genauso heiß und innig liebt die gleiche Frieda ein höchst anspruchsvolles Bilderbuch: die Ostergeschichte, illustriert von Brian Wildsmith. Weder von der Thematik noch von der Aussage her ist dieses. Buch für Friedas Alter gedacht. Auch die Bilder sind für Dreijährige schwer zugänglich. Und doch scheint dieses Buch etwas zu bergen, was Frieda fasziniert. Erwachsene können es vielleicht ahnen, aber letztendlich entzieht es sich ihrer Wahrnehmung. That's life, too.

Offensichtlich entscheiden Kinder aus ihrer jeweiligen ureigenen Situation heraus, welche Bücher für sie gut sind oder nicht. Dem elterlichen/erwachsenen Einfluss ist das entzogen. Deswegen ist es sinnvoll, Kindern ein möglichst vielfältiges Angebot von Kinder- und Jugendliteratur zu eröffnen. Ob und warum es dann zu einer geglückten Begegnung kommt, wird Eltern und Erzieherinnen oft ein Rätsel bleiben. Und das ist gut so, denn Kinder und Bücher bewegen sich gerne im Bereich des Unverfügbaren.

Marion Lohoff-Börger