Wenn Kinder sterben
Der Tod eines Kindes gehört zu den schwierigsten Situationen, die Menschen sich vorstellen können. Kaum eine andere Situation macht so deutlich, wie steinig und schmerzhaft der Weg sein kann, zu dem Eltern mit ihren Kindern aufbrechen.
Familien mit sterbenskranken Kindern
Wenn Kinder schwer krank werden und wenn Kinder sterben, dann gerät alles aus den Fugen, dann stürzt eine Welt ein. Eltern mobilisieren all ihre Kräfte bis über ihre Grenzen hinaus. Viele Menschen im Umfeld werden unsicher. Hilfe in dieser Situation ist so notwendig wie schwierig. Ein Ansatz hierfür ist der häusliche Kinderhospizdienst.
Familien, die ihr Kind durch eine tödlich verlaufende Krankheit verlieren – in Deutschland werden jährlich ca. 4000 Diagnosen solcher Erkrankungen bei Kindern gestellt (beispielsweise erblich bedingte Krankheiten, onkologische Erkrankungen, Stoffwechselstörungen) – erleben ein kräftezehrendes Auf und Ab von Hoffen und Verzweifeln. Das familiäre System gerät ins Wanken, was vieles nach sich ziehen kann: Beziehungsprobleme, Gefühle der Schuld und des Versagens, Vernachlässigung der Geschwisterkinder, physische und psychische Erkrankungen.
Das sterbenskranke Kind
Kinder wissen um ihren Zustand - oft noch vor der Diagnose. Eltern, Geschwister und andere Angehörige erlebt es dabei oft nicht als hilfreiche Ansprechpartner. Diese Personen sind sehr stark mit sich und ihrem Leid beschäftigt. Sie fühlen sich verpflichtet, dem Kind gegenüber die Hoffnung aufrecht zu erhalten und das Kind vor Schwerem zu schützen. Kinder verinnerlichen dann, dass man besser nicht darüber spricht. Zumindest nicht mit den Menschen, die eigentlich die natürlichen Ansprechpersonen wären. Sie vertrauen sich dann eher unbeteiligten Personen an. Wenn das kranke Kind sich als Auslöser und Urheber dieser belastenden Situation erlebt, wird es dadurch zusätzlich belastet.
Kinder und Jugendliche ängstigen sich vor den gleichen Dingen wie Erwachsene: Vor Schmerzen, vor Leiden und davor alleingelassen zu werden, insbesondere von den Eltern und Freunden. Mit Dauer und Intensität der Krankheit nehmen die Kontakte zur Schulklasse, zu Freunden und Freizeitkameraden ab.
Die Eltern
Eltern, die die Diagnose einer unheilbaren Krankheit ihres Kindes erhalten, durchleiden verschiedene Phasen. Durch den Tod eines Kindes wird eine Zukunftshoffnung der Eltern zerstört. Sie sind verzweifelt, der Sinn ihres Lebens steht in Frage – für das Kind und für sich selbst halten sie die Hoffnung bis zum Schluss aufrecht, dass doch noch ein Wunder geschieht.
Zu den Sorgen um das kranke Kind kommt noch eine große Zerrissenheit gegenüber der restlichen Familie, da die Zeit und Kraft fehlt, sich genügend um die anderen Familienmitglieder zu kümmern. Nach dem Tod des kranken Kindes folgt oft ein totaler physischer Zusammenbruch.
Väter und Mütter haben unterschiedliche Schwierigkeiten. Mütter fühlen sich oft allein für die Pflege des Kindes, die Organisation des Familienlebens und Haushalts verantwortlich. Alle Last scheint auf ihnen zu ruhen. Väter müssen einen Balanceakt zwischen Karriere, Sicherung des Lebensunterhalts und Familie vollführen. Sie fühlen sich deshalb oft überfordert, wenn sie nicht allen Anforderungen gerecht werden. Nicht selten zerbrechen Ehen unter diesen Spannungen. Alleinerziehende haben es besonders schwer, da sie die Anforderungen aus beiden Rollen erfüllen.
Die Geschwister
Auch wenn viele Geschwister scheinbar problemlos mit der Situation zurecht kommen, sind sie davon massiv betroffen. Alle Aufmerksamkeit – sowohl die der Eltern, als auch sonstiger Personen - richtet sich auf das kranke Kind. Geschwister müssen ihren Lebensrhythmus darauf einstellen und sich danach richten. Ihre Bedürfnisse werden nicht gesehen und ernst genommen und sie gewinnen den Eindruck: erst dann, wenn ich schwer krank bin, bekomme ich ausreichend Zuwendung.
Geschwisterkinder lernen schnell, nicht mehr zu fragen, nicht über die Krankheit und den Tod zu reden – weil es niemand aushält darüber mit ihnen zu reden. Der kleine Bruder eines 6jährigen Mädchens wird von einer unserer Patinnen begleitet. Sie geht mit ihm oft auf den Spielplatz und muss dann ganz lang ganz laut mit ihm schreien - „Weißt Du, das darf ich zu Hause nicht wegen Katharina, da muss ich immer ganz leise sein.“
Wenn Kinder sich heimlich wünschen oder offen äußern, dass der Bruder oder die Schwester doch lieber nicht da wäre, was zur normalen Geschwisterbeziehungen dazu gehört, empfinden sie oft erhebliche Schuld an der Krankheit oder dem Tod. Es ist schwierig, mit den Eltern darüber zu reden. Wenn Kinder die Unsicherheit ihrer Bezugspersonen spüren sprechen sie das Thema auch nicht an. Zudem sind sie von den Eltern abhängig und wollen Liebe, Zuwendung und Unterstützung bekommen und wollen sie daher nicht irritieren. Dies ist bei Kindern ein unbewusster Vorgang.
Bei Verlust älterer Geschwister müssen die Jüngeren den Wegfall des Vorbildes verkraften und im schlechtesten Fall müssen sie als „Ersatz“ für ein verstorbenes Geschwister fungieren.
Es gibt noch weitere „Betroffene“, die wenig im Blick sind. Dazu zählen z. B. die Großeltern und andere Verwandte, aber auch Freunde der Familie, der Kinder oder auch Ärzte, Pflegekräfte, oder Pädagoginnen.
Hilfreiche Begleitung
Familien, die solche Situationen durchlitten haben, haben uns Dinge genannt, die in der Begleitung hilfreich sind. Wichtig ist, dass es verlässliche Partner gibt. Dazu gehören die Fachkräfte für Behandlung, Therapie oder Seelsorge. An sie geht der Wunsch, möglichst offen und verständlich mit den Betroffenen zu sprechen.
Familien wünschen sich, dass Menschen wie etwa Verwandte, Familie, Freunde, Nachbarn oder auch Vereine in ihrem Umfeld dableiben, statt auszuweichen. Dabei geht es nicht um spezielle Hilfe, sondern um den „ganz normalen Umgang“. Wenn Nachbarn und Bekannte auf die andere Straßenseite wechseln, um nicht mit Betroffenen zusammenzutreffen, dann „stirbt mein Kind ein zweites Mal. Dann wird das Kind totgeschwiegen.“ Anteilnahme am Schicksal der Familien ist sehr wichtig.
Inzwischen können immer mehr solcher Familien durch die langsam in Deutschland entstehende Kinderhospizarbeit begleitet werden. Patinnen und Paten entlasten Eltern und Geschwister. „Wenn die Patin vom Kinderhospizdienst da ist, dann kann ich endlich mal in Ruhe Duschen und meine Haare richten“ erzählt eine Mutter, die begleitet wird. Ihre 16jährige Tochter hat einen Gehirntumor. Diese Entlastung der Eltern ist nötig, damit sie immer wieder Dinge tun können, die für sie wichtig sind. Dazu gehört auch, für Geschwisterkinder Zeit zu haben. Wenn Eltern immer wieder auch für die gesunden Geschwisterkinder Zeit haben, kann die Gefahr einer Entfremdung vermieden werden. Für die Eltern sind die Patinnen und Paten wichtige Gesprächspartner. Daneben wissen sie, dass jemand beim erkrankten Kind zu Hause ist, der weiß, was zu tun ist. „Es tut gut zu wissen: man ist nicht allein“.
Für das kranke Kind wird die Patin oft Freundin. Mit ihr kann es anders sprechen, als mit den Eltern. Es spürt hier eine andere Offenheit, eine andere Betroffenheit, als bei den Eltern. Mit der Patin über Ängste und das Sterben zu sprechen, hat eine andere Qualität. Patinnen und Paten haben nicht die Antworten auf alle Fragen – ganz im Gegenteil – doch sie stellen sich den Fragen.
Für Geschwister ist es wichtig, dass die Patin auch zu ihnen kommt, dass vielleicht sogar eine extra Zeit für sie eingeplant wird („Wenn ich da bin lerne ich immer mit dem Bruder des kranken Kindes Französisch, denn es hat sich herausgestellt, dass er da grottenschlecht ist und ich kann ganz gut Französisch.“). Unter Umständen bildet die Begleitung der Geschwister auch den Schwerpunkt.
Für die Betroffenen ist es nicht einfach, in einer solchen Situation Hilfe anzunehmen. Ziel der Kinderhospizarbeit ist es, Hilflosigkeit abzubauen, das Umfeld der Kinder und Familien zu stärken, das sterbende Kind zu begleiten, die Angehörigen zu entlasten und zu unterstützen. Damit alle gemeinsam die schwierige Situation meistern können und gut weiterleben können.
Wir als ambulanter Kinderhospizdienst bieten diese Unterstützung zu Hause an und tragen dazu bei, dass Kinder ihre letzte Lebenszeit im vertrauten Umfeld verbringen können. Stationäre Kinderhospizdienste bieten auf andere Art Entlastung und Begleitung der Familie an aber auch die Möglichkeit in einem solchen Haus die letzten Lebenstage des Kindes gemeinsam zu verbringen.
Georg Hug