Leid und Tod

Als unsere Welt stillstand

Jeder stirbt für sich allein. Hans Falladas verzweifelter Romantitel trifft auch Eltern, die in der Schwangerschaft oder kurz danach ein Kind verlieren. Für sie bricht nicht nur eine Welt zusammen; viele fühlen sich zudem in ihrer Trauer unverstanden und allein. Eine Herausforderung gerade auch für die Kirchen.

Als Nele geboren wurde, wog sie 890 g, und meine Schwangerschaft war 28 Wochen und zwei Tage alt. Die ersten Signale, die ich erst im Nachhinein als Hinweise auf ein ernstes Problem verstand, hatte ich einen Monat vorher gespürt, eine merkwürdige Unruhe und ein Ziehen im Bauch. Am 3. November schickte meine Frauenärztin mich wegen eines katastrophal hohen Blutdrucks ins Krankenhaus; dort bestätigte sich ihr Verdacht auf ein HELLP-Syndrom, eine für Mutter und Kind lebensbedrohliche Extremform der Präeklampsie („Schwangerschaftsvergiftung“). Ich bekam Kortisonspritzen für Neles Lungenreifung; am 7. November kam sie per Kaiserschnitt zur Welt.

Nach vier Tagen mussten die Ärzte sie in die 30 Kilometer entfernte Universitätsklinik in Nimwegen verlegen; ihr Bauch blähte sich immer mehr, weil sie das Mekonium („Kindspech“) nicht ’rausdrücken konnte. Dieses Problem war schnell gelöst, und in unsere Angst um Nele mischten sich zunehmend Hoffnung und auch Glücksgefühle – wenn wir ihren unbändigen Lebenswillen spürten, die Ärzte und Schwestern von ihren Fortschritten beim Atmen berichteten und ganz besonders wenn wir sie aus dem Inkubatornehmen und „känguruhen“ durften.

Dazwischen wieder Abstürze und Panik, wenn es Nele schlechter ging. Es waren die emotionalsten Wochen meines Lebens. Bis zum 7. Dezember, genau einen Monat nach ihrer Geburt; nachdem Nele eine Infektion gut überstanden hatte, fehlte ihr die Kraft gegen eine zweite. Wir wünschten uns, dassNele noch getauft wurde, dann befreiten Ärztin und Schwester sie von allen Kabeln und Schläuchen, und unser erstes Kind starb in unseren Armen.

Unsere Welt stand still. In den folgenden Wochen lebten wir in einer Parallelwelt, wussten nicht, wie wir die Tage verbringen sollten, sahen keinen Sinn mehr, spürten nur Leere, Unruhe, suchten und wussten nicht was. Die Wellen von Trauer, Schmerz und Sehnsucht, die uns immer wieder überrollten, nahmen uns den Atem. Wir wollten unser Kind wiederhaben! An manchen Tagen ging es besser, bis die nächste Welle uns von Neuem in eine bodenlose Tiefe stürzte und wir das Gefühl hatten: Da kommen wir nie wieder ’raus! Bis heute, neun Jahre danach, ist diese Trauer nicht „erledigt“. Die Wellen sind flacher geworden, aber besonders die „Zeit mit Nele“ rund um ihre Geburts- und Todestage wird uns jedes Jahr wieder schwer, auch nach der Geburt unserer Kinder Mila und Joscha.

Glück und Unglück

Aber wir wissen heute auch: Wir hatten Glück im Unglück

  • mit Nele, die wir in unseren Händen halten konnten und die uns Bilder und Erinnerungen an Momente großen Glücks und eine grenzenlose Liebe hinterließ,
  • mit unseren Familien und Freunden, die unsere Trauer aushielten, mit uns weinten und nie die Geduld mit uns verloren, wenn uns noch lange nach ihrem Tod bei einem Fest aus heiterem Himmel die Trauer überwältigte,
  • mit der Selbsthilfegruppe der „Verwaisten Eltern“; die Gespräche dort stärkten unsere Dankbarkeit für die 30 Tage mit Nele. Eltern, die ihre Kinder früh in der Schwangerschaft verlieren, bleibt diese greifbare Erinnerung versagt,
  • mit den „Profis“, die uns begleiteten: den Ärzten und Schwestern, die uns ihr Mitgefühl zeigten und dabei Ruhe und Sicherheit ausstrahlten, der Sozialarbeiterin der Klinik, die sich lange über Neles Tod hinaus um uns kümmerte, dem Pfarrer, der uns spontan besuchte und bei Neles Beerdigung wunderschön tröstliche Worte und Bilder fand, dem Psychologen, der Silke in ihrer Trauerarbeit bestärkte,
  • mit den Kolleginnen und Kollegen an unseren Arbeitsplätzen, die uns einfühlsam den Rücken freihielten,
  • mit der Geburt unserer Kinder Mila und Joscha, die uns die Sicherheit schenkten: Wir fühlen uns nicht nur als Eltern, wir sind es wirklich – unsere Hände sind nicht mehr leer. Die uns zugleich aber auch bewusst machen, welche Lücke Neles Tod gerissen hat,
  • und nicht zuletzt: miteinander. Auch wenn unsere Wege, die Trauer zu verarbeiten, sich manchmal unterschieden, haben wir uns gegenseitig darin respektiert und unterstützt. Man kann einander nicht besser und tiefer kennenlernen als beim gemeinsamen Bestehen einer solchen Herausforderung!

Negative Reaktionen, wie andere trauernde Eltern sie manchmal erleben („Seid ihr immer noch nichtdarüber weg? Es war doch noch gar kein richtiges Kind. Wer weiß, wozu es gut war?“) blieben uns glücklicherweise nahezu erspart. Vielleicht haben wir durch unsere Offenheit selbst dazu beigetragen. Wir haben niemand im Unklaren gelassen, wie es um uns stand, und unsere Bedürfnisse klar ausgesprochen; zumindest Missverständnisse waren so ausgeschlossen.

Zurück ins Leben

Mischa ging zwei Wochen nach Neles Tod zum ersten Mal wieder zur Arbeit; ich selbst fühlte mich, auch wegen der Nachwirkungen des HELLP-Syndroms, erst nach vier Monaten wieder stark genug, in der Grundschule zu unterrichten. Als besonders heilsam für mich empfand ich das Schreiben meines Tagebuchs; es vertrieb meine Sorge, ich könnte viele der starken Eindrücke, die Neles kurzes Leben mir bescherte und die mir so wichtig waren, am Ende doch vergessen … Auch die sportliche Aktivität bei der DLRG und auf dem Fahrrad tat mir gut und brachte mich ein Stück weit zurück ins Leben.

Und an jedem Abend, bei Wind und Wetter, pflegten wir unser Ritual, besuchten Neles Grab, stellten uns vor, wie sie barfuß durch die Wolken läuft und uns zusieht, und wünschte ihr eine gute Nacht. Daran, dass sie dort, wo sie jetzt ist, gut aufgehoben ist, und dass Gott auch uns hält, hatte ich nie einen Zweifel. Ja, ich verstehe es nicht und finde es ungerecht, dass unser Kind sterben musste und dass andere leben dürfen; aber Wut oder Auflehnung habe ich deswegen niemals empfunden. Auch Mischa, als Naturwissenschaftler in religiösen Dingen eher skeptisch, sieht das so: Woher sonst sollten wir unsere Hoffnung nehmen, dass für Nele nicht alles vorbei ist?

Silke (Grundschullehrerin, 41) und Mischa Ounanian (Ingenieur, 43) 
leben mit ihren Kindern Mila (7) und Joscha (3) am Niederrhein.