Ein starkes Stück Kirche
Auch wenn sie mitunter störrisch auf ihrem Eigenleben bestehen und sich nicht für die Gemeinde „verzwecken“ lassen wollen: Familiengruppen halten zentrale Merkmale von Kirche lebendig.
Ohne Familiengruppen hätte unsere Kirche in der DDR nicht überlebt. Diese Aussage, die ich bei einem Besuch in Görlitz kurz vor der Wende hörte, unterstreicht nachdrücklich, was für ein „starkes Stück Kirche“ Familiengruppen darstellen. Im Intimbereich ihrer Gruppe fühlten sich die Mitglieder sicher vor Bespitzelung, auch wenn es selbst hier gelegentlich schwarze Schafe gab, und konnten offen über ihren Glauben und ihr Leben reden.
Aber auch wo solche Gefahren fern liegen, drücken sich in Familiengruppen wesentliche Lebensvollzüge von Kirche aus.
Sich kennen: Kirchliches Leben leidet gerade in großen Städten oft darunter, dass sich die Mitglieder einer Gemeinde gar nicht richtig kennen. Dabei ist es ein Urbedürfnis des Menschen, einen Namen zu haben, beim Namen gerufen zu werden, nicht nur von Gott (vgl. Jes 43,1, „Ich habe Dich bei Deinem Namen gerufen.“), sondern auch von vertrauten Mitmenschen, und selbst andere beim Namen rufen zu können.In einer Familiengruppe kennt jeder jeden beim Namen. So bildet sie inmitten der Pfarrei eine Insel, in der das Licht des Erkennens und Verstehens die einzelnen Mitglieder verbindet und das Dunkel der Anonymität vertreibt.
Sich verstehen: Es ist schön, einander nicht nur beim Namen zu kennen, sondern einander auch vom Wesen her zu verstehen. Als der bekannte Schweizer Psychotherapeut Paul Tournier gefragt wurde, was denn die Leute bei ihm gesucht hätten, gab er zur Antwort: „Sie wollten verstanden werden.“ Gewiss, auch in einer Familiengruppe gibt es Streit und Missverständnisse – aber eben auch sehr viel Verständnis füreinander. Das bewährt sich vor allem in Krisenzeiten. Da ich den anderen kenne, weiß ich sein Verhalten besser einzuordnen und werde nicht gleich ausflippen, wenn er aus der Rolle fällt.
Miteinander reden: „Im Schreiben verfertigen sich die Gedanken“, meinte Heinrich von Kleist. Was für das Schreiben gilt, gilt sicher auch für das Reden. Im Gottesdienst der Kirche gibt es meist nur eine Einbahnstraße: Der Priester spricht, die Gläubigen hören zu. Dabei gibt es in den Köpfen und Herzen der Gläubigen so viel Lebenserfahrung, so viel Glaubenswissen... Gehoben werden diese Schätze nur, wenn sie zur Sprache kommen dürfen. Im Gespräch miteinander in der Familiengruppe kann jeder sich aussprechen und damit „verfertigen“; er kann teilhaben am Wissen und den Einsichten der anderen und so seine eigene Erkenntnis bereichern und daran wachsen.
Einander beraten und stützen: Die Wartelisten unserer Beratungsstellen sind lang. Manches, was die Klienten dort suchen, könnten sie auch in der Familiengruppe erfahren: Beratung in Beziehungsfragen, in Fragen der Kindererziehung und in Fragen des Glaubens. Das eigene, oft unsichere Gemüt braucht die Hilfe von Freunden, die die eigenen Vorstellungen kritisch hinterfragen, Anregungen und Tipps vermitteln können und helfen, sich klarer zu werden über den eigenen Weg.
Einander helfen, wenn’s brennt: Familiengruppen sind Solidargemeinschaften. Am augenfälligsten wird das an den Babysitterdiensten, die junge Familien sich wie selbstverständlich gegenseitig leisten; aber auch Hilfen beim Transportieren von Möbeln, beim Renovieren der Wohnung oder beim Vorbereiten von Festen sind an der Tagesordnung. Diese Nachbarschaftshilfe ist wichtig, auch und gerade im Alter. So schreibt der Verantwortliche eines Familienkreises aus unserer Gemeinde, der schon fast 30 Jahre besteht: „Der Kreis, der im Pfarrleben weniger in Erscheinung tritt, hat sich zu einer festen und verschworenen Gemeinschaft entwickelt, wo einer für den anderen einsteht. Im Krankheitsfall bleibt keiner allein; regelmäßige Besuche, gegebenenfalls Hilfe im Alltag sind selbstverständlich. Die fünf verstorbenen Mitglieder hat der Kreis, so gut es ging, in ihren letzten Monaten und Wochen begleitet, wohl wissend, dass dies auch eine Hilfe für die Angehörigen war.“
Freundschaften: „Vae soli“, „Wehe dem, der allein ist“, sagten schon die alten Römer. Das gilt auch für Familien. Wer nicht weiß, wo er hingehört, ist arm dran. In Familiengruppen sind nicht nur die Eltern freundschaftlich verbunden, sondern oft auch die Kinder. Wo Eltern sich sonst große Sorgen machen, wen ihre Kinder mit nach Hause bringen, mit wem sie umgehen, erleben Mitglieder von Familienkreisen eine wesentliche Entlastung. Ihre Kinder haben schon einen Umgang, mit dem sie vertraut sind; sie sind damit der Gefahr der Isolation enthoben und zwar nicht gefeit, aber doch weniger anfällig für „schlechte Gesellschaft“.
Miteinander den Glauben leben: Unser christlicher Glaube ist auf Gemeinschaft angelegt. „Wo zwei oder drei in meinem Namen beisammen sind, bin ich mitten unter ihnen.“ Und:
„Alles, was zwei von euch auf Erden gemeinsam erbitten, werden sie von meinem himmlischen Vater erhalten.“ (Mt, 18,20.19) Oder: „Alle sollen eins sein.“ (Jo 17,21) Diese und viele andere Stellen mehr zeigen es.
In den großen Versammlungen der Gemeinde kann eine solche Einheit nicht so dicht erfahren werden wie in einer kleinen Gruppe. Mitglieder von Familiengruppen, die gemeinsam Gottesdienst feiern, erleben das immer wieder. Gerade in jüngster Zeit haben, angeleitet von den Diözesanstellen für Ehe und Familie, viele Familiengruppen das ganze Kirchenjahr miteinander gestaltet und dabei auch ihren Kindern die Geheimnisse des Glaubens auf verständliche Weise vermittelt.
Allerdings tauchen hier für mich auch einige Fragezeichen auf. Bei der Taufe eines Kindes aus einer jüngeren Familiengruppe war ich überrascht über die große Zahl der Gäste; an die 100 Erwachsene und Kinder waren da versammelt. Es quirlte nur so von Leben, und ich fühlte mich wohl in dieser jungen Kirche wie lange nicht mehr. Es war eine ganz andere Kirche, als ich sie sonst erlebe. Bei aller Freude darüber spürte ich aber zugleich recht schmerzlich eine gewisse Trennung von der „normalen“ Gottesdienstgemeinde, die im Schnitt doch wesentlich älter und nicht so lebendig ist. Geht die Entwicklung zu zwei Kirchen hin, frage ich mich – auf der einen Seite zur traditionellen und auf der anderen Seite zur alternativen? Gott sei Dank konnte ich gerade an Fronleichnam die beiden Kirchen wieder vereint sehen. Die Frage bleibt trotzdem, gerade angesichts der rasanten Entwicklung kleinerer Freikirchen, die ihre eigene kirchliche Gemeinschaft leben, weil sie in der großen traditionellen nicht mehr das finden, was sie suchen.
Engagement in der Gemeinde: Eine Lösung dieser Frage könnte ja auch darin bestehen, dass der Pfarrer die Familiengruppen um ein größeres Engagement für die Gemeinde bittet, etwa um die regelmäßige Gestaltung von Familien- und Kindergottesdiensten. Mit diesem Anliegen bin ich allerdings in einer früheren Pfarrei ganz schön ins Fettnäpfchen getreten. Zwei Familiengruppen erklärten sich dazu bereit, doch bei der dritten erlebte ich eine regelrechte Abfuhr. Sie seien, so sagte die Gruppe, in erster Linie zusammengekommen, um sich in der Gruppe zu finden, gemeinsame Dinge zu besprechen und zu unternehmen, aber nicht um sich verzwecken und in den Dienst der Gemeinde stellen zu lassen. Das könne sich vielleicht später einmal ergeben, wenn die Gruppe es wolle – aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt auf keinen Fall! Das war mir damals eine Lehre. Obwohl ich das Engagement einer Gruppe nach außen immer auch als einen Gewinn für die Gruppe nach innen betrachte; das „Kochen im eigenen Saft“ tut weder der großen Kirche gut noch ihren einzelnen Gruppen.
Deutlich wurde mir damals aber: Die bloße Existenz einer Familiengruppe in einer Gemeinde ist schon ein großer Gewinn für die Gemeinde. - Im Übrigen hat eine Gruppe, die sich versteht, immer auch ihre Ausstrahlung in den Raum hinein, in dem sie lebt. Eine Gemeinde spürt das, auch wenn diese Ausstrahlung nicht in ihr Bewusstsein gehoben wird.
Missionarische Qualität: Gerade diese Ausstrahlung bringt auch eine missionarische Qualität mit sich. Man denke nur an die Urkirche, die laut Apg 2 und 4 „ein Herz und eine Seele“ war und gerade deswegen viele Menschen an sich zog. Zwar sind die Treffen von Familiengruppen zunächst einmal geschlossene Veranstaltungen.
Aber sie können sich auch öffnen und so ein niederschwelliges Angebot für andere Familien darstellen. Ich denke zum Beispiel an Familiengottesdienste im kleineren Kreis, bei denen auch andere Familien dazukommen können. Ich denke an unsere zwanglosen Familienpicknicks auf der Pfarrwiese, bei denen Grillmund Brauereigarnituren gestellt werden, aber jede Familie ihr eigenes Essen mitbringt. Mitglieder von Familiengruppen bilden hier einen festen Kern, zu dem jederzeit andere Familien dazustoßen oder von dem sie sich auch wieder entfernen können – wie sie wollen. Gerade das freie Spiel der Begegnung empfinden viele dabei als wohltuend – aber das wäre nicht möglich ohne die Präsenz des „harten Kerns“.
Für die Gemeinde und für mich als Pfarrer sind Familiengruppen ein Segen. In ihnen lebt die Kirche, vielleicht auch dann noch, wenn vieles darum herum schon zusammengebrochen ist.
Gerd Babelotzky