Wertevermittlung in der Kindertageseinrichtung

Viele Eltern fühlen sich in der Erziehung ihrer Kinder verunsichert. Im Gegensatz zu früher, als von Generation zu Generation weitergegeben wurde, wie Kinder erzogen werden sollen, sind sie vor dieser Aufgabe häufig auf sich allein gestellt.

Hinzu kommt, dass die Anforderungen an die Eltern bei der Erziehung ihrer Kinder gewachsen sind und es angesichts der zunehmend zu beobachtenden Brüchigkeit von Beziehungen sowie dem Rückgang von Traditionen und religiösen Bindungen immer schwieriger wird, den Erziehungsauftrag zu erfüllen. Vor allem in Hinblick auf religiöse Fragen und die Vermittlung von Grundwerten sind viele Eltern verunsichert.

Umfragen zufolge stehen christliche Grundwerte in der Erziehung auch heute noch – oder wieder – hoch im Kurs: Die deutsche Bevölkerung ist mehrheitlich dafür, Kinder nach dem Grundsatz der Nächstenliebe zu erziehen (84 Prozent), sie zur Wohltätigkeit gegenüber Bedürftigen anzuhalten (83 Prozent) und ihre Gewissensbildung zu entwickeln (80 Prozent). Fast zwei Drittel sind der Meinung, Kindern sollte der religiöse Ursprung der hohen Feiertage erklärt werden.

Das christliche Menschenbild

Dem zunehmenden Bedarf an Wertevermittlung können kirchliche Kindertageseinrichtungen einiges entgegensetzen. Denn Werteerziehung in Zusammenhang mit religiöser Bildung war schon immer selbstverständlicher Bestandteil der frühkindlichen Erziehung, Bildung und Betreuung in kirchlichen Kitas. Sie ermöglichen Kindern nicht nur kognitive, emotionale und religiöse Bildung, sondern geben ihnen auch Maßstäbe für das Leben und das Zusammenleben.

Ausgehend vom christlichen Menschenbild erfolgt Wertevermittlung vor dem Hintergrund, dass es im Christentum vor allem um die Liebe Gottes und um den Glauben an ihn geht. Zeichen seiner Liebe zu uns Menschen sind etwa die Zehn Gebote, die uns gleichzeitig schützen und verpflichten. Diese Zehn Gebote, bieten seit Menschengedenken klare Orientierungshilfen für Richtig und Falsch, für Gut und Böse – sie sind Maßstab für grundlegende Werte und Normen.

Mit den Zehn Geboten will Gott den Menschen keine Auflagen machen, was sie zu tun und zu lassen hätten, sondern ihnen vielmehr Hilfen zu einem sinnvollen und guten Leben mit ihm und miteinander anbieten. Vor diesem Kontext sind Wertevermittlung und religiöse Bildung in kirchlichen Kindertageseinrichtungen religionspädagogisch miteinander verkoppelt.

Dabei ist zu beachten, dass Wertevermittlung letztlich nicht durch Institutionen, d.h. auch nicht durch Kirchen und Kindergärten erfolgt, sondern durch Menschen. Kinder orientieren sich nicht an Wertessystemen oder Verhaltensvorschriften, sondern am Vorbild der Menschen, mit denen sie zusammenleben – vor allem an ihren Eltern und ihren Erzieherinnen und Erziehern. Bei ihnen schauen sie ab, wie sie ihre Werte leben, bei Ihnen schauen sie genau hin, wie sie zum Beispiel mit Schuld und Versagen, mit Kritik und Lob oder mit Vergeben und Belohnen umgehen.

Werteerziehung wächst im Umgang miteinander

Für Werteerziehung gibt es weder ein Patent noch eine pädagogische Zauberformel. Sie wächst vielmehr aus einem wertschätzenden Umgang mit den Kindern heraus. Kinder, die erleben, dass sie von Erwachsenen, von ihren Eltern, von Erzieherinnen und Erziehern wertgeschätzt, für wertvoll und für liebenswert erachtet werden, lernen auf diese Weise, anderen Menschen Wertschätzung und Achtung entgegenzubringen.

Um die Kinder nicht einem unkoordinierten Nebeneinander an Wertevorstellungen auszusetzen, legen kirchliche großen Wert auf eine enge Kooperation mit den Eltern im Sinne einer Erziehungspartnerschaft. Es geht nicht darum, den Eltern die in der Kindertageseinrichtung geltenden Regeln zu oktroyieren, sondern sie gut über das der Erziehung, Bildung und Betreuung in der Kita zugrunde liegende Wertesystem zu informieren.

Das ist deshalb so wichtig, weil Kinder in diesem frühen Alter Werte und Normen verinnerlichen, die ihr ganzes Leben prägen können. Aufgrund ihres Bedürfnisses nach sozialer Zugehörigkeit übernehmen sie die Werte ihrer Bezugsgruppe in ihr eigenes Normen- und Wertesystem. Hier setzen die Erzieherinnen und Erzieher kirchlicher Kindertageseinrichtungen an, indem sie die Kinder mit christlichen Werten bekannt machen und ihnen die Bedeutung dieser Werte für das eigene Verhalten erklären. Dadurch lernen die Kinder nicht nur, Regeln zu befolgen, sondern auch, im Gespräch mit anderen Regeln zu ändern, wenn gute Argumente dafür sprechen oder höhere Werte dies rechtfertigen. Dabei können die Erzieherinnen und Erzieher aus dem riesigen Fundus von biblischen Geschichten schöpfen, die Orientierung bei der Normen- und Wertefindung bieten.

Werteerziehung nicht auf moralisierende Appelle reduzieren

Die Geschichte von Lazarus beispielsweise beschreibt den Konflikt zwischen Arm und Reich und erklärt den Kindern, dass Gott mit den Armen ist. Jesu Aufforderung an alle, die sich über jeden Zweifel erhaben glauben: „Der werfe den ersten Stein“, steht beispielhaft dafür, eigene Wertvorstellungen kritisch in Bezug auf Selbstgerechtigkeit zu reflektieren. Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter steht für das Engagement für Benachteiligte und Kranke. Die Bitte Jesu am Kreuz, Gott möge seinen Peinigern vergeben, „denn sie wissen nicht, was sie tun“, verweist auf die Vergebung von Schuld. Die Bibel bietet unzählige solcher Geschichten, die Kindern Normen und Werte nach christlichem Verständnis lebensnah und spannend vermitteln.

Dabei geht es nicht darum, die christliche Überlieferung auf ein paar Geschichten und einige wenige Moralaussagen für die Wertevermittlung zu reduzieren. Wenn sich religiöse Erziehung und die Vermittlung von biblischen Geschichten allein auf moralisierende Appelle reduzieren, verzichten sie auf ihre besten Möglichkeiten in Sachen Wertevermittlung. Religion ist eine Quelle, aus der Menschen Kraft gewinnen können, moralisch zu leben, keinesfalls jedoch ist sie als Katalog spezifischer Moralvorstellungen zu verstehen.

Werteerziehung oft überfordert und missbraucht

Ein Missverständnis bei der Werteerziehung ist der Versuch, angesichts der verwirrenden Vielfalt von Problemen klare Lösungen anzubieten. Hier ist Vorsicht geboten: Der Versuch, komplizierte aktuelle Fragen mit scheinbar einfachen Antworten der Vergangenheit oder der christlichen Entstehungsgeschichte lösen zu wollen, endet in der Sackgasse. Religiöse Erziehung ist nicht mit Hang nach fundamentalistischer Vereinfachung gleichzusetzen, vielmehr erzeugt lebendige Religion eine Gegenkraft, eine Kraft zum Aushalten des Uneindeutigen und des Verwirrenden.

Geradezu zynisch mutet es schließlich an, mit einer Werteerziehung der Kinder korrigieren zu wollen, was die gesellschaftliche Moral der Erwachsenen hervorruft. Pädagogik kann nicht mit Moral gut machen, was eine moralisch gleichgültige Politik und gesellschaftliche Wirklichkeit verursachen. Werteerziehung kann nicht gut machen, was Alltagswirklichkeit und Politik verfehlen. Pädagogik und religiöse Erziehung wird dabei zugleich überfordert und als ein Mittel zu anders definierten Zwecken missbraucht.

Werte sind nicht lehrbar, sondern nur lernbar

Was also ist angesichts dessen zu tun? Kirchliche Kindertageseinrichtungen sehen als eine Aufgabe religiöser Erziehung, einen Kanon richtiger Werte entschieden an die Kinder weiterzugeben. Dabei ist besonders auf die Überwindung der vorherrschenden Doppelmoral zu achten, zum einen der Moral, die Kindern gegenüber vertreten wird, zum anderen der Moral, die für die Erwachsenen gilt. Die Frage ist hierbei nicht, ob wir genug Werte haben und sie hoch genug stecken und laut genug formulieren, sondern wie wir sie an die Kinder weitergeben..

Denn Werte sind nicht lehrbar, sondern nur lernbar. Dieses Bewusstsein ist für die Werteerziehung in kirchlichen Kindertageseinrichtungen entscheidend. Kinder haben nicht von Natur aus die Werte, die sie für ein selbstständiges und verantwortliches Leben benötigen, sondern sie müssen sie lernen. Eltern, Erzieherinnen und Erzieher sind sie ihnen schuldig, aber nicht auf dem Weg der Belehrung, sondern auf dem Weg des Vorlebens und des Mit-Lebens in der Gemeinschaft. Dabei geht es nicht darum, den Kindern fertige Lösungen mitzugeben, sondern die Voraussetzungen, die sie befähigen, den Aufgaben der Zukunft moralisch gewachsen zu sein. Das ist Aufgabe und Notwendigkeit religiöser Erziehung und Wertevermittlung in evangelischen Kindertageseinrichtungen.

Ilse Wehrmann