Lernort Nr. 1: die Familie

Über der (notwendigen) Diskussion um Ausbau und Qualität von Kitas und Tagesmüttern darf das Elternhaus als erste und wichtigste Bildungsstätte nicht aus dem Blick geraten, fordert Petra Kleinz.

Es gibt doch so gute Betreuungsangebote, sogar für Babys! Ist es da nicht gut für unser Kind, wenn wir es schon früh von Profis und gemeinsam mit Gleichaltrigen versorgen lassen?

Die De-facto-Verkürzung der dreijährigen Elternzeit auf eine einjährige Elterngeld-Zeit und der Ausbau von Betreuungsangeboten für „U3-Kinder“, der in den vergangenen Jahren die Nachrichten füllte, haben dazu geführt, dass junge Eltern sich schon bald nach oder gar vor der Geburt ihrer Kinder intensiv mit den Chancen und Risiken familiärer und außerhäuslicher Kinderbetreuung auseinandersetzen. Vielen ist dabei kaum bewusst, dass die eigentlichen Experten für die Erziehung ihrer Kinder sie selbst sind und dass das Leben in einer Familie einzigartige Bedingungen für das Aufwachsen der Jüngsten bereitstellt; das gilt prinzipiell für alle Arten von Familien, also für Ein-Eltern-, Stief- und Patchwork-Familien genauso wie für die „klassischen“ Kernfamilien mit Vater, Mutter und gemeinsamen Kindern und für Pflege- und Adoptivfamilien. Besondere Belastungen durch schwere psychische Erkrankungen der Eltern, Alkohol- oder Drogenabhängigkeit, aber auch materielle Not können diese günstigen Bedingungen gefährden; das darf aber den Blick auf den „Normalfall“ nicht verstellen.

Familie ist „die soziale Urform, die mit dem Menschsein selbst gegeben ist“, definiert die Pädagogin Elisabeth Badry, und der natürliche Ort von Erziehung. Bereits während Schwangerschaft und Geburt wachsen erste Beziehungen zwischen Eltern und Kind; Mutter und Vater sind daher seine ersten und engsten Bezugspersonen. Durch das Stillen wird das Neugeborene nicht nur mit optimaler Nahrung, sondern auch mit Zuwendung und Zärtlichkeit, Nähe und Wärme versorgt. Die innige Zweisamkeit mit der Mutter beim Stillen legt die Grundlage für die Mutter-Kind-Bindung; ähnlich vertraute Bindungen entwickeln die Kinder dann zum Vater, später auch zu den anderen Familienmitgliedern und weiteren Bezugspersonen.

Der sichere Hafen für die Entwicklung

Für ihr Leben mit dem Baby brauchen Eltern keine besondere Ausbildung. Sie müssen auch keine Supereltern sein, um ihrem Nachwuchs einen guten Start ins Leben zu ermöglichen. Ihre intuitiven, über Generationen angelegten elterlichen Fähigkeiten sorgen dafür, dass sie die Signale ihres Babys wahrnehmen, entschlüsseln und angemessen darauf eingehen – jedenfalls solange sie selbst nicht unter Stress stehen. Ihre Fürsorge beschränkt sich, anders als in der Kita, nicht auf bestimmte Öffnungszeiten; das Baby kann sich darauf verlassen, dass seine Eltern es auch nachts, am Wochenende und bei Krankheiten liebevoll versorgen. Auf dieser Basis wächst das „Urvertrauen“ in die Welt und in einem weiteren Sinne auch Gottvertrauen. Die Bindung an die Eltern garantiert Kindern einen „sicheren Hafen“, von dem aus sie mehr und mehr ihre Umwelt zu erkunden und ihre wachsenden Fähigkeiten zu erproben wagen. Und sie hilft ihnen, mit den Widrigkeiten des Lebens besser fertigzuwerden („Resilienz“). Sie wirkt sich lebenslang positiv auf ihre körperliche und seelische Gesundheit aus und prägt die Gestaltung ihrer zwischenmenschlichen Beziehungen bis ins hohe Alter. Umso besorgniserregender, dass nach Schätzungen von Bindungsforschern nur etwa 60 Prozent aller Kinder in Deutschland „sicher gebunden“ sind. Und umso wichtiger, dass Eltern, die sich verunsichert oder überfordert fühlen, frühzeitig Beratung und Hilfe suchen.

Als überschaubare, aber dennoch in sich differenzierte soziale Gruppen begünstigen Familien wichtige Grunderfahrungen von Kindern. Ihre Mitglieder sind schicksalhaft und beständig miteinander verbunden; die Geschwisterbeziehungen sind in der Regel die dauerhaftesten überhaupt. Diese Stabilität prägt die Identität von Kindern; hier erleben sie sich zugleich als unverwechselbares Individuum und als Mitglied einer Gemeinschaft. Sie spüren, dass sie bedingungslos angenommen und geliebt werden, unabhängig von Fehlern, Schwächen und Misserfolgen. Dadurch können sie ihre Persönlichkeit mit allen Eigenheiten und Fähigkeiten frei entfalten, ohne Angst vor Ablehnung oder Ausgrenzung.

Über diese grundlegenden seelischen Lernprozesse hinaus bieten Familien ihren Kinder die erste, dauerhafteste und nachweislich wirksamste Lernumwelt (so der Erziehungswissenschaftler Ludwig Liegle) für viele andere „Fächer“. Zum Beispiel für das Erlernen der (Mutter-)Sprache: Das beginnt schon vor der Geburt, wenn sie die Eltern sprechen hören. Danach geht es weiter: Die Eltern erzählen ihrem Baby, was sie beim Baden oder Wickeln tun, geben den Dingen und Geschehnissen in seiner Umwelt einen Namen, spiegeln seine Befindlichkeiten und fassen sie in Sprache. Bei Spielen und alltäglichen Verrichtungen stimulieren die Eltern vom Tastsinn bis zum Gleichgewicht alle Sinne des Kleinen, die sich dabei ausdifferenzieren und entfalten. Es macht soziale Lern-Erfahrungen von Zärtlichkeit und Nähe, wenn die Eltern mit ihm kuscheln; es erlebt den liebevollen Umgang von Papa und Mama miteinander, die sich zur Begrüßung küssen und in Momenten der Freude oder des Kummers in den Arm nehmen. Während seiner ganzen Kindheit und Jugend erlebt und spürt es die Solidarität in der Familie, erfährt Geborgenheit und gegenseitiges Verzeihen. Vielleicht erlebt es auch Zeiten von großer Sorge und Not, weil ein Angehöriger schwer erkrankt oder Arbeitslosigkeit droht, und spürt, welche Kraft dann aus der gegenseitigen Unterstützung und dem Glauben erwächst. Seine Eltern werden ihm so zu Vorbildern, deren Verhaltensweisen und Kompetenzen, aber auch Haltungen und Werte es sich zu eigen macht. All diese fundamentalen und existenziellen Erfahrungen sind wertvoll für das Gelingen seines Lebens samt der Beziehungen, die es später selbst knüpft.

Eltern haben keine Öffnungszeiten

Professionelle Erziehung, ob in Kitas oder bei Tagesmüttern, bietet dafür keinen Ersatz. Sie haben eine eigene Berechtigung, aber sie arbeiten unter anderen Bedingungen. Die Erwachsenen dort begegnen Kindern in einer Berufsrolle; sie kümmern sich um ihre Schützlinge für eine begrenzte Zeit und wechseln, möglicherweise sogar mehrfach. Auch wenn die Kinder durchaus eine Bindung an ihre Betreuerinnen entwickeln – eine existenzielle Verbundenheit besteht zwischen ihnen nicht; viele Erziehungs-Profis haben ihren Lebensmittelpunkt in eigenen Familien außerhalb der Einrichtung. Sie sind also, anders als die Familie, austauschbar.

Keine Frage: Auch die „familienergänzenden“ Betreuungs-, Bildungs- und Erziehungseinrichtungen ermöglichen Kindern wertvolle Lernerfahrungen, nicht zuletzt durch den ausgedehnten Kontakt zu Gleichaltrigen. Sie entlassen Eltern aber nicht aus der Verantwortung für ihre Kinder; das zeigt sich schon darin, dass sie Kita oder Tagesmutter nach ihren Vorstellungen auswählen und im Eltern(bei)rat über die Arbeit der Einrichtung mitentscheiden können. Und auf jeden Fall ist ein enger Austausch zwischen Eltern und Erzieherin gefordert, um Widersprüche im Umgang mit den Kindern zu vermeiden. Zudem bleiben die Erfahrungen von Kindern in jeder Form von Betreuung eingebettet in ein Familienleben, in dem Eltern und Kinder – hoffentlich – intensiv und ausreichend Zeit miteinander verbringen. Zeit zum Mit- erleben und Mittun bei Alltagsaufgaben im Haushalt, aber auch für – je nach Alter der Kinder – Gespräche über „Gott und die Welt“ (die Erfahrungen in der Kita inklusive). Vor allem Mahlzeiten und Erlebnisse, Feste und Feiern erweisen sich für Eltern wie Kinder immer wieder als Kristallisationspunkte, die sie beglücken und ihre Gemeinschaft und Verbundenheit in der Familie festigen.

Dr. Petra Kleinz

ist Diplom-Pädagogin und arbeitet als Fachreferentin für Frühe Hilfen beim Sozialdienst katholischer Frauen (SKF). Sie lebt mit ihrem Mann und vier Kindern in Kamen.