Bitte, lieber Kindergarten

Vielen ABC-Schützen fehlt manches, was sie zum erfolgreichen Lernen brauchen. Aber das können die Erzieherinnen allein nicht ändern, meint die Lehrerin Bettina Werner.

Dennis wibbelt spätestens nach zwei Minuten im Sitzkreis unruhig auf seinem Stuhl oder springt sogar auf und läuft durchs Klassenzimmer. Manuela schreit „Iiih!“, als ihr beim Laternenbasteln Kleister auf die Finger tropft, und weigert sich weiterzuarbeiten. Lukas kann nicht links und rechts unterscheiden.

Fatih formuliert keinen Satz, der mehr als vier Wörter umfasst. Die meisten seiner Äußerungen sind grammatikalisch fehlerhaft und/oder unvollständig. Nora kann schon schreiben. In Druckschrift – aber ihre Bewegungsabläufe dabei werden sie später massiv hindern, wenn sie eine verbundene Schrift erlernen soll.

Liza bringt keine Aufgabe zu Ende. Sobald es anstrengend wird, begutachtet sie lieber die Arbeiten ihrer Tischnachbarn.

Hannah schafft es nicht, ihren Mitspielern einen Ball gezielt zuzuwerfen.

Janos redet einfach dazwischen, während Serena mir ihr Bild erklärt.

Emma braucht ihren Ranzen nicht selbst zu tragen. Den trägt ihre Mutter ihr an jedem Morgen bis ins Klassenzimmer (in der zweiten Etage).

Nur die Hälfte ist „schulreif“

Während ich diese Aufzählung schreibe, erschrecke ich fast selbst. Kommen unsere Kinder heute wirklich mit derart massiven Schwächen in die Schule? Aber eine Rundfrage unter meinen Kolleginnen in der Grundschule bestätigt: Ja, von zehn Schulneulingen bringen vielleicht vier oder fünf alles mit, was wir von ihnen erwarten.

Schulfähigkeit herstellen, Kinder „schulreif“ machen: Darin sehen die meisten Eltern immer noch eine zentrale Aufgabe des Kindergartens. Wahrscheinlich sind die Ansprüche von vielen sogar noch gestiegen, seitdem der Elementarbereich nach dem „Pisa-Schock“ als Bildungsstatt bloße Betreuungseinrichtung (wieder-)entdeckt wird. Allerdings erlebt dabei eine sehr einseitige Sicht von Lernen ein Comeback, die meinen Problemen kaum Abhilfe verspricht: Gute Kindergärten zeichnen sich demnach dadurch aus, dass ihre Absolventen schon „ein bisschen“ lesen und schreiben können, den Zahlenraum bis 20 (mindestens) sicher beherrschen, drei Lieder auf dem Glockenspiel klimpern, sich auf Englisch (wahlweise Französisch) vorstellen und virtuos mit der Computermaus malen können.

Meine Erwartungen an den Kindergarten sind andere: Ich wünsche mir,

  • dass Kinder dort erfahren, wie sie ihre Wünsche mit anderen abstimmen und Konflikte beilegen können, welche Strategien dabei helfen und welche nicht,
  • dass Janos dort erlebt: Das Zusammenleben klappt besser, wenn ich meine Wünsche auch mal hinter die von anderen zurückstelle, und ich komme trotzdem nicht zu kurz,
  • dass Kinder dort Materialien zum Forschen und Experimentieren und Anregungen finden, die ihre Neugier auf ihre Umwelt befriedigen und weiter anstacheln,
  • dass Emma dort lernt, kleine Aufgaben selbstständig zu erledigen und für ihren Kindergarten-Bedarf selbst zu sorgen, statt sich von ihrer Mutter bedienen zu lassen,
  • dass Kinder dort entdecken: Der Stolz über einen Erfolg ist umso größer, je mehr Mühe ich dafür aufwenden musste; es lohnt sich, wenn ich mich über längere Zeit in eine Aufgabe verbeiße,
  • dass Manuela dort viel Spaß beim Matschen im Sandkasten und beim Gestalten mit Knete gewinnt und dabei ganz beiläufig ihre Fingerfertigkeit fürs Schreiben schult.

Fehlschlüsse aus dem Pisa-Schock

Mit anderen Worten: Ich erhoffe vom Kindergarten vor allem eine intensive Förderung des sozialen Lernens sowie der Wissbegierde und der Bereitschaft der Kinder zu lernen. Am

besten schaffen das wohl Einrichtungen, die Kindern einerseits in „Freispiel“-Zeiten eine individuelle Beschäftigung ermöglichen, andererseits aber auch auf regelmäßige Gemeinschafts-Erfahrungen, zum Beispiel bei „Sitzkreisen“ oder Mahlzeiten, Wert legen.

Aber selbst die besten Erzieherinnen in einem vorbildlichen Kindergarten können nicht garantieren, dass alle Kinder top-vorbereitet in die Schule kommen. Das verhindert schon die eher stiefmütterliche personelle wie materielle Ausstattung, mit der sie trotz aller öffentlicher Bekenntnisse zum „Vorrang für die Bildung“ auskommen müssen. Und am Beispiel von Kindern wie Dennis, Fatih oder Hannah erlebe ich immer wieder, wie sehr ihre Entwicklung und Lernfähigkeit unter schwierigen Umweltbedingungen und insbesondere Familienverhältnissen leidet. Der Ehekrieg seiner Eltern raubt Dennis die Ruhe, die er zum konzentrierten Zuhören braucht. Und wo soll Hannah das Werfen und Fangen lernen, wenn sie ihre „Freizeit“ überwiegend in der engen elterlichen Wohnung in der siebten Etage einer Mietskaserne verbringen muss – sprich: vor dem Fernseher? Solche Handicaps kann keine Erzieherin alleine wettmachen. Umso wichtiger erscheint mir jedoch, dass sie die Entwicklung ihrer Schützlinge genau beobachtet und den Eltern frühzeitig Auswege zu Logopäden, Ergotherapeuten und anderen Beratern aufzeigt. Vermutlich könnte das manchem Fehlstart in die Schule oder späteren „Legasthenie“-Fällen vorbeugen.

Und last not least: Ich wünsche mir beim Wechsel der Kinder vom Kindergarten zur Schule intensive Gespräche mit den Erzieherinnen über die besonderen Talente und Belastungen der Mädchen und Jungen. Viele Kolleginnen pflegen diesen Austausch seit jeher. Ob wir die Informationen, die wir dabei erhalten, immer zum Besten der Kinder nutzen können, steht auf einem anderen Blatt; schließlich ist die Zahl der Schüler pro Lehrer in den Grundschulen zahlenmäßig noch ein bisschen suboptimaler als die der Kinder pro Erzieherin im Kindergarten.

Vielleicht dürfen sich die Erzieherinnen auch mal was von der Schule wünschen?

Bettina Werner