Leben mit einem behinderten Kind

Der Rückblick einer Mutter auf das Leben mit ihrem behinderten, bereits erwachsenen Sohn.

Unser Sohn Markus ist jetzt 32 Jahre alt.

Seit über 4 Jahren lebt er in einem Heim. Markus erkrankte mit 10 Monaten am 9. Tag nach der Pockenschutzimpfung an einer Encephalitis (Gehirnentzündung). Er bekam schwere Krämpfe und war drei Tage bewusstlos.

Seit damals hat sich Markus - wenn anfangs auch verzögert - körperlich normal entwickelt. Aber in geistiger Hinsicht steht er nach wie vor ungefähr auf dem Entwicklungsstand eines einjährigen Kindes. Er spricht und versteht kein Wort (im Sinne von Begreifen, sein Gehör ist ausgezeichnet). Zu diesem Mangel an Verstand kommt auch ein absoluter Mangel an Vernunft.

Markus würde heute noch, so er die Möglichkeit dazu hat, ohne jede Scheu aus offenen Fenstern, vor rasende Autos oder in reißende Flüsse springen. Zurzeit kippelt er gern mit Stühlen. Selbst schmerzhafte Stürze hindern ihn nicht daran, sofort danach erneut zu kippeln. Er ist offensichtlich nicht imstande das Kippeln als Ursache für den Sturz und die Schmerzen auszumachen.

Als Kleinkind war Markus ständig in Bewegung. Ich habe ihn in den ersten Jahren im Laufen gefüttert und im Laufen die Haare geschnitten. Vor dem Haareschneiden sah er aus wie Beethoven und danach wie ein Schnittlauchtopf. Er lief damals sogar abends so lange, bis er im Laufen einschlief und hinfiel, davon aufwachte, aufstand und weiterlief, bis er wieder einschlief, hinfiel....

Diesen unseligen Kreislauf konnten wir nur unterbrechen, wenn wir ihn mit eigens für ihn angefertigten Gurten ans Bett banden. So angeschnallt konnte er sich zwar vom Rücken auf die Seite drehen und auch aufsetzten und er hatte beide Arme frei, um mit seinen heiß geliebten Fädchen zu spielen, aber er konnte nicht aufstehen und weglaufen.

Wenn er dank dieser Hilfe zur Ruhe gekommen und eingeschlafen war, banden wir ihn los und deckten ihn zu. Dieses späte Zudecken bot eine kleine Chance, Bettbezug und Inlett vor seinen Zerreißorgien zu bewahren. Einige Male fand ich ihn früh vergnügt in Wolken von Federn wie ein Fuchs im Hühnerhof. Etliche Jahre unterlagen seiner Zerreißlust, auch Anziehsachen, Vorhänge, Tapeten, Teppiche, Tischdecken und was der Dinge mehr waren.

Markus erschreckte uns zudem ständig mit seinen epileptischen Anfällen und den damit verbundenen Stürzen und Verletzungen, hielt uns mit seinen Kletterversuchen in Atem, nervte uns täglich neu mit seinen vielfältigen Fähigkeiten, Krach zu machen, mit seinen Ausbruchsversuchen, mit seinem Spaß am Vergießen, Ausschütten, Sabbeln, Schmatzen, Runterwerfen. Dazu kam sein stark autistisches Verhalten in einer Zeit, wo hierzulande kein Mensch von Autismus eine Ahnung hatte. Wir bekamen keinen Blickkontakt mit ihm, er ließ sich nicht in den Arm nehmen, streckte nie seine Arme nach uns aus, war voller unbegreiflicher Ängste. Wir lernten mühsam, dass wir ihm nie frontal gegenübertreten durften, höchstens von der Seite, am besten von hinten, dass er am besten auf sehr leise Töne reagierte, dass er mich nach Anfällen zwar sehen wollte, aber nur mit mindestens 2 Meter Abstand, und erste zaghafte Zärtlichkeiten nur an den Füßen erlaubt waren. Sein ganzes Verhalten und seine Reaktionen waren unerklärlich, undurchschaubar, nicht nachvollziebar, rätselhaft. Kurzum, Markus war für die ganze Familie eine ständige, uns an die Grenzen unserer seelischen, nervlichen und körperlichen Grenzen bringende Herausforderung.

Aber Herausforderung bedeutet auch Lebensqualität, zwingt, Kräfte und Fähigkeiten zu mobilisieren und Phantasien zu entfalten. In unserer zivilisierten Welt ist ein Mangel an Herausforderungen sicherlich oft die Ursache für Lebensüberdruss.

Manche Dinge konnten wir technisch lösen. So bauten wir notgedrungen - obwohl wir nicht einmal das Geld fürs Grundstück zusammenkratzen konnten - für ihn und um ihn herum. Markus` Tagesraum hatte zu Küche und Wohndiele Gitter und Balkenwände, damit er ständig Sicht- und Hörkontakt zu uns hatte. Geschlafen hat er in einem kleinen gefangenen Raum hinter unserem Schlafzimmer, so dass wir ihn immer hören und ich ihn von meinem Bett aus sogar sehen konnte. So bekamen wir alle nächtlichen Anfälle mit, was uns wenigstens in den ungestörten Nächten einigermaßen ruhig schlafen ließ.

Der Garten ist ohne Obstbäume (Markus hätte auch faules Obst und auch mit Wespe gefuttert), ohne Beete, die er zertrampelt hätte, selbstredend ohne giftige Pflanzen. Wir haben einen Wohngarten mit Rasen, Bäumen und Sträuchern und wegen Markus ` Kletterkünsten einen überhöhten Zaun, der allerdings auch nichts nützte, wenn einer von uns seinen Stuhl im Garten vergaß.

Haus und Garten waren pflegeleicht (meinetwegen), boten Zimmer, Ecken und Hecken zum Zurückziehen (vor allem für die drei Töchter) und boten Erlebnismöglichkeiten wie Bastelkeller, großer Sandberg mit Wasserhahn vor dem Haus, Holzhütten, Turngerüst, Geheimfächer im Stockbett und vieles mehr. Das ist wichtig für eine Familie, die fast nie gemeinsam aus dem Haus konnte. (Ferien waren immer ein großes Problem.) Trotzdem kam oft am Sonntagmorgen nach dem Spielen auf dem Rasen Langeweile auf. Bis ich allmählich erkannte, dass Langeweile anscheinend oft eine notwendige Vorstufe zu kreativem Tun ist. Unsere Töchter - alle jünger als Markus - begannen, sonntags zu malen, zu nähen, zu lesen, zu kochen            alles aus Langeweile. Und montags gingen sie immer ausgeruht in die Schule.

Im Laufe der Jahre lernte Markus, uns einige Wünsche mitzuteilen. Er stellte Schuhe auf den Tisch, wenn er raus wollte, und brachte uns eine Flasche, ein Glas oder sogar die Milchkanne, wenn er Durst hatte. Mühsam hat er das Trinken aus Becher oder Glas gelernt. Anfangs hat er den Becher immer am gegenüberliegenden Rand angesetzt, so dass ihm die Flüssigkeit in den Ausschnitt rann. Er hat auch Gläser zerbissen, und es war das purste Glück, dass er das Glas nicht runterschluckte.

Seinen heißgeliebten Joghurt holte Markus so schwungvoll hinten aus dem Kühlschrank, dass er alles, was davor stand, rigoros auf den Küchenboden fegte. Aber zertrümmerte Glasschalen samt Inhalt auf unseren roten Ziegelfliesen kümmerten ihn ebenso wenig wie feuchte und dunkelgefärbte Teppichböden in Wohnzimmer und Diele, die entstanden, weil er gefüllte Trinkgefäße ungeniert schräg haltend durch die Gegend trug.

Natürlich war es ein Erfolg, dass Markus seinen eigenen Willen entwickelte und zusätzlich gelernt hatte, ihn uns mit seinen begrenzten Möglichkeiten mitzuteilen. Nur, dass uns Fortschritte in seiner Entwicklung eben fast immer zunächst vor neue Probleme stellten.

So beobachtete ich eines Tages, wie Markus vergeblich versuchte, seinen mit Kaffee gefüllten Becher neben sich auf die gepolsterte, gewölbte Sofalehne zu stellen. Seine Versuche scheiterten. Der sich nach unten verjüngende Becher blieb nicht stehen. Schließlich drehte Markus den Becher kurzerhand um, die breite Seite nach unten. Nun stand er. Markus erhob sich und trabte zufrieden davon. Denn mit solchen Nebensächlichkeiten wie dieser, dass jetzt der gesüßte und sahnige Kaffee schnell und lautlos im Sofa versickerte, hielt er sich ja nie auf.

Diese und andere kleine tägliche "Katastrophen" übersteht man nur unbeschadet, wenn man Flecken auf dem Teppich, Kaffee im Sofa, Scherben auf dem Küchenboden, zerfetzte Kleidung, heruntergeholte Gardinen und andere Lächerlichkeiten einfach nicht mehr wichtig nimmt. Und das wiederum ist eine ganz neue Freiheit. Ich stoße auf Menschen, die meinen, ich könnte gar nicht mehr lachen, weil ich so ein Kind habe, und dann wieder auf Menschen, die überzeugt sind, ich müsste, weil ich so ein Kind versorge, zwangsläufig die Milde und Sanftmut in Person sein. Beides stimmt nicht. Zum Glück habe ich das Lachen nicht verlernt und "flippe auch aus", wie das meine Töchter nennen. Auf Dauer ist so ein Kind meist eher ein nerviges, denn ein seelisches Problem.

Als Karoline mit 13 in den Weihnachtsferien einmal Markus gar nicht mehr aushielt, uns aber nichts einfiel, wohin wir sie schicken konnten, kamen wir schließlich auf die Idee, ihr zu erlauben, ihr Zimmer rosa zu streichen. Auf diese Weise war sie die ganzen Ferien beschäftigt und kam mit Markus kaum in Berührung. Mein Mann Georg beherrschte sich mannhaft beim Anblick der vielen Farbkleckse auf sämtlichen Leitern des Hauses und zu seinem Entsetzten auch auf der Holzdecke und dem grünen Teppichboden von Karolines Zimmer, und das, obwohl für Georg rosa eigentlich keine Farbe ist, eher ein Alptraum.

Leider gab es genügend Spannungen in der Familie, bei denen es uns nicht gelang, sie so abzubauen, die man nur aushalten konnte und musste. Und ich musste es sogar aushalten, dass ich sie nicht mehr aushielt und durchdrehte und brüllte und mich selbst nicht mehr mochte Einmal - nach meinem Autounfall - als meine Beinprothese zu allem Überfluss auch noch scheuerte, da habe ich sogar vor Wut heulend unsere Klobrille mehrmals hintereinander aufs Klo geknallt, bis sie zersprang.

Danach schlich ich mich zwar erleichtert, aber kleinlaut davon und traute mich nicht, es der Familie zu gestehen, bis sich Georg abends seinen Podex einzwickte. Erst haben die Töchter nur verstohlen gelacht, bis eine rausplatzte und ein allgemein befreiendes Gelächter auslöste.

Es gab bei Markus Phasen, wo er sichtlich fürchterlich litt, ohne dass es uns gelang, die Ursache seines Leidens zu erkennen. Gleichzeitig war er so aggressiv, dass wir kaum in seine Nähe konnten. So viel Leid mit ansehen zu müssen, ohne helfen zu können, ist großer Stress und macht verzweifelt, nicht sanft, eher gereizt und aggressiv. Ich war jedenfalls manchmal versucht ihn kräftig zu schütteln und anzubrüllen: „Hör endlich auf zu leiden!“

Jahrelang fühlte ich mich ständig überfordert allen gerecht zu werden: Markus, den drei Töchtern, meinem Mann, mir selbst. Heute denke ich, ich habe damals alles nebenbei gemacht: die Kinder,  den garten, den Haushalt, das Schreiben, das Denken, das Schlafen, das Essen und, und, und.

Mit der Zeit gewöhnte ich mir an, wenn ich mich arbeitsmäßig überfordert fühlte, erst einmal die Beine hochzulegen und zu überlegen, was ich erstens von der vielen Arbeit wirklich tun musste oder einfach nur aus Gewohnheit tat und welche Arbeit sich nicht vermehrte, wenn man sie einen Tag liegen ließ, wie z.B. Staubsaugen im Gegensatz zum Wäscheversorgen oder Geschirrspülen. Und mit der Zeit lernte ich, weniger zu waschen, zu bügeln, zu putzen und rationeller zu sein. Das war damals praktisch, klug und bequem, und das meiste davon nennt man heute umweltfreundlich.

Sehr geholfen hat mir auch immer mein Hang zum Genießen. Da war das duftende Vollbad, in das ich floh, wenn die Nerven zu flattern begannen und möglichst ehe ich mit Klodeckeln knallte. Das Bad konnte ich mir allerdings meistens nur abends leisten, wenn ich nicht allein mit Markus im Haus war. Beim Bad waren Wärme, Schaum und Duft immer eine Garantie für Entspannung. Dazu kam - und das ist mir eigentlich erst viel später klar geworden - ein Zurückziehen ins Bad wurde von allen Familienmitgliedern akzeptiert. Jeder versteht, dass man im Bad allein sein will und die Tür zumacht

 

Versucht man das als Mutter von vier Kindern in einem anderen Raum, wetten, dass wenigstens einer genau wissen will, was man da eigentlich so alleine macht?

Zudem hatte ich mir angewöhnt, früh um 7.00 Uhr, wenn mein Mann und die drei Töchter das Haus in Richtung Arbeitsplatz und Schule verließen und Markus noch schlief, auf dem Sofa liegend, in den Garten schauend, heißen Tee schlürfend, eine Stunde Musik zu hören und die Bücher zu lesen, für die ich abends viel zu abgespannt war.

Ich gebe zu, dass es sehr viele Probleme in Familien gibt, die mit Behinderung nichts zu tun haben. Aber einerseits haben wir die oft zusätzlich, wie Krankheiten oder Arbeitslosigkeit, und andererseits unterscheidet sich eine Behinderung von anderen Problemen, dass es keine Sache von Wochen, Monaten oder Jahren ist, sondern eine lebenslange. Es ist ein sehr permanentes Problem.

Früher habe ich in Markus' Behinderung einen Sinn gesucht. Ich sah sie als ein mir von Gott geschicktes Schicksal an. Heute denke ich, bei der Behinderung laufen einfach Naturgesetze ab. Sie ist - ausgelöst durch die Impfung - ein Störfall in einem großartigen, uns das Staunen lehrenden Lebenssystem, das man ohne Handicaps meist viel zu selbstverständlich nimmt. Die Behinderung von Markus hat in sich keinen Sinn, aber ich kann versuchen, sinnvoll damit umzugehen. Es bleibt immer Freiheit für eigene Entscheidungen. So wie ich zwar nicht die Freiheit habe, dass mir mein linker Unterschenkel wieder wächst, aber meine Freiheit ist, wie ich mit einem Fuß lebe.

Als mich einmal jemand ansprach, wie gut es doch war, dass Markus so Dinge im Schonraum Familie leben konnte, da fragte ich mich: Haben wir eigentlich in unserer Familie einen Schonraum für Markus geschaffen oder mussten wir nicht ständig versuchen, Schonräume vor Markus zu schaffen. Und wie mir Gespräche mit unseren drei Töchtern (heute 30, 27 und 25 Jahre alt) zeigen, ist mir dies trotz aller Mühe nur unvollkommen gelungen.

Aber der Begriff "Schonraum" irritierte mich sowieso. Das klingt so nach Ruhe, Harmonie, leisen Tönen, sanften Farben. Wir haben diesen Schonraum öfter als Kampfplatz und Stressdomizil empfunden. Was war sie nun, unsere Familie? Tummelplatz für Gefühle und Gefühlsausbrüche, Spannungen, zerfetzte Nerven, Missverständnisse oder eben doch Schonraum, Geborgenheit, Vertrautheit, Zuverlässigkeit, Zuneigung, Zärtlichkeit? Wahrscheinlich alles, aber glücklicherweise hat es getragen, und ließ alle vier Kinder ihren Platz finden bzw. erwachsen werden. Markus, um vieles ruhiger und sozialer geworden und von weniger Anfällen geschüttelt, fand zu unserer Erleichterung einen Platz in einem Heim, wo er sich offensichtlich wohl fühlt, und musste nicht in die Psychiatrie. Und unsere drei Töchter nehmen das Leben selber in die Hand und sind bereit, die Konsequenzen ihrer Entscheidungen zu tragen.

Vor zwei Jahren im Sommer mieteten Georg und ich ein Motorwohnboot in England. Da wir beiden Alten nicht mehr sehr behände sind, hatte sich unsere jüngste Tochter angeboten, uns als Schiffsjunge zu begleiten. Bei der Übernahme des Bootes in Wroxham überraschte uns unsere älteste Tochter, die damals an einer Klinik in England arbeitete. Sie hatte eine Woche Urlaub genommen, um uns zu begleiten. Auf der Fahrt las ich "Das fünfte Kind" von Doris Lessing. Und ich weinte vor Glück, dass unsere Familie trotz Markus nicht zerbrochen war, dass wir im Gegenteil gerade dabei waren, mit unseren erwachsenen Töchtern in einer bezaubernden Landschaft Urlaub zu machen. Da bleibt mir doch gar nichts anderes übrig, als vor lauter Glück zu weinen.

Es war wie Ernteeinfahren.

Ruth Müller-Garnn