„Hallo, ich bin auch noch da!“

Alle lachen einen aus und erzählen Behindertenwitze und sagen: Wer ist eigentlich behindert: du oder dein Bruder? Und das Blöde ist: Ich kann fast mit keinem darüber reden, weil es keiner versteht. Meistens muss ich auch auf meine Mutter verzichten, weil sie zu sehr mit meinem Bruder beschäftigt ist.“ 

Die Gedanken des zwölfjährigen Markus zeigen: Nicht nur die Eltern von behinderten Kindern, auch die Geschwister sind manchmal bis an ihre Grenzen gefordert. Sie müssen aushalten, wenn sie beschimpft oder angestarrt werden. Und sie stehen im Schatten, müssen mit ihren Problemen selbst zurechtkommen, weil die Fürsorge für das behinderte Kind alle Kräfte ihrer Eltern aufsaugt. Dass die meisten Kinder ihre Geschwister mit Behinderungen trotzdem so annehmen, wie sie sind, zeigt der Brief von Claudia, Schwester eines vierjährigen, mehrfach schwerstbehinderten Mädchens:
„Ich wünsche mir, dass du eines Tages auf zwei gesunden Beinen auf einem Waldweg spazieren gehen kannst und nicht mit einem klapprigen Rollstuhl durch die Straßen fahren musst. Ich wünsche mir, dass du mit gesunden Armen und Händen essen und spielen kannst und dass du mit deinen Augen sehen und jemandem zublinzeln kannst. Aber so, wie du jetzt bist, mag ich dich genauso gerne.“ 

Eingebettet in diese Liebe sind auch Auseinandersetzungen und Reibereien mit dem behinderten Bruder oder der behinderten Schwester möglich und nötig. Das gehört zu der Unbefangenheit, mit der Kinder mit der Behinderung umgehen. Und doch müssen die nicht behinderten Kinder auch dabei oft zurückstecken. Besonders dann, wenn der Tod des behinderten Kindes in greifbare Nähe rückt. Nach dem Tod seines Bruders schreibt Peter:
„Früher kam mein Bruder jeden Samstag- und Sonntagmorgen in mein Zimmer. Er machte das Licht an und setzte sich vor meinen Schrank und spielte. Dabei machte er meistens eine riesige Unordnung und jede Menge kaputt. Es gab jede Menge Streit mit meinen Eltern, die mir sagten, ich solle dies nicht so eng sehen, weil es sowieso bald vorbei sein würde. Sie hatten Recht. Heute finde ich es gut, denn mein Bruder wird nie mehr kommen und mich wecken.“

Kinder wie Markus, Claudia und Peter müssen sich nicht nur mit Fragen auseinander setzen, die sich ihren Altersgenossen nie stellen. Sie können oft auch mit niemandem darüber reden. Daher erfahren es viele von ihnen geradezu als befreiend, wenn sie mit Gleichaltrigen zusammenkommen, die all diese Gefühle und Gedanken kennen und denen man nicht viel erklären muss. Gelegenheit dazu bieten Seminare speziell für diese Kinder mit und ohne ihre Familien. Auskunft über solche Angebote erteilen die örtlichen Behindertenverbände. Sie informieren auch über Betreuungsmöglichkeiten für das behinderte Kind, wenn die Eltern sich einmal ein paar Tage Zeit nur füreinander und für die nicht behinderten Kinder nehmen möchten.

Zitate
aus: Ich bin nicht du – du bist nicht ich. Geschwister behinderter Kinder berichten. Butzon & Bercker, Kevelaer 1999 und
aus: Deine Schwester Dörte. Bibliotheks- und Informationssystem der Universität Oldenburg, 1989.