Schön, dass ihr euch streitet

Geschwister streiten mit Hingabe, auch wenn die Eltern es verbieten. Gut so, meint Alois Moos, denn nur so erlernen sie eine angemessene Streitkultur.

Alle Eltern kennen diese Szenen: „Das ist meines, gib her!“ „Nein, das ist meins, lass’ los!“ „Nein, deins ist schon längst kaputt.“ „Aua!“ „Blöde Kuh!“ In die erregten Kinderstimmen mischt sich noch ein Gezerre und Reißen, dann macht es „Rrratsch“, und für einen Moment ist Ruhe. Aber schon gleich geht es mit viel Geheule vor der Mutter in die nächste Runde.Erwachsener brauchen da gute Nerven. Und so manche Mama und mancher Papa fragen händeringend: „Müsst ihr denn immer streiten?“

Nahrung für das Selbstwertgefühl

Natürlich müssen die Kinder nicht. Niemand zwingt sie, und doch streiten sie mit so viel Kraft und Hingabe, Ausdauer und Wut, dass Außenstehenden Angst und Bange werden kann. Sie könnten es doch so schön haben (sagen die Erwachsenen); es gibt doch auch immer wieder Zeiten, in denen sie so ruhig und friedlich miteinander spielen, dass man gar nicht merkt, dass sie überhaupt im Haus sind! Warum dann doch immer wieder Zank und Streit, Krach und verbale oder gar handgreifliche Auseinandersetzungen gerade unter Geschwistern? (Natürlich, Kinder in der Nachbarschaft, einer Klasse oder Kindergartengruppe können auch streiten...)

Auch wenn viele Mütter oder Väter das nicht gerne lesen: Streit und Auseinandersetzungen unter Kindern müssen sein. Auf die Frage, ob sie denn streiten müssen, könnten sie guten Gewissens „Ja“ sagen. Denn in vielen Zankereien und Kämpfen lernen Kinder, sich wichtig und ernst zu nehmen und für sich zu sorgen; sie entwickeln Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein. Erwachsene wundern sich gelegentlich: Viele Streitanlässe sind so kindisch und nebensächlich, dass die Kinder selbst schon mal vergessen, warum sie eigentlich streiten, oder sich sofort gegen einen Dritten (einen Erwachsenen) verbünden können. Aber gerade das zeigt: Das Streiten an sich hat eine Funktion. Es zeigt dem Kind: Ich bin wichtig! Ich kann mich durchsetzen! Ich darf für mich streiten! Gut, wenn Eltern und Erzieherinnen Kindern diese Erfahrung ermöglichen.

Ruhe ist noch kein Frieden

Zugegeben: Für Erwachsene, Eltern, Großeltern, Erzieherinnen ist es nicht immer leicht, den Streit der Kinder auszuhalten. Es gibt Situationen, die ein Eingreifen erfordern, etwa wenn die Gefahr von Verletzungen zu groß wird. Doch zu oft unterbrechen Erwachsene einen Streit zu früh, indem sie schlichten und Schiedsrichter spielen. Sie meinen es zwar gut, aber auch hier gilt: „Gut gemeint ist manchmal das Gegenteil von gut.“ Denn das Eingreifen der Erwachsenen zeigt Kindern vor allem, dass der Stärkere Erfolg hat – in diesem Fall die Erwachsenen. Sie können ihr Anliegen durchsetzen: Es herrscht Ruhe. Aber das Anliegen der Kinder bleibt dabei oft ungelöst: Die Ruhe ist noch längst kein Frieden! Zudem geht das Eingreifen der Erwachsenen oft mit Schuldzuweisungen einher, sodass die Kinder zusätzlich gekränkt sind.

Dass Kinder sich in bestimmten Entwicklungsphasen gerade durch das Streiten als Persönlichkeit erfahren und dabei reifen, heißt allerdings nicht, dass ihnen jede Form des Streitens und der Auseinandersetzung erlaubt sein sollte. Vielmehr sollten die Erwachsenen ihnen helfen, je nach Alter und Situation eine „Streitkultur“ zu entwickeln. Einen sinnvollen Beitrag dazu kann eine „Nachbesprechung“ des Streits leisten, die allerdings gerade keine Schuldzuweisungen verfolgt, sondern die Kinder wertschätzt. Zum Beispiel könnten die Erwachsenen sie fragen: „Um was ging es dir denn? Was wolltest du erreichen?“

Ohne Streit und Streit-Kultur geht es nicht, denn:

 •         Interessenskonflikte und Situationen, in denen Meinung gegen Meinung, Position gegen Position steht, wird es immer geben. Oft stehen dann Forderungen gegeneinander, von denen die eine so berechtigt ist wie die andere, weil jeder für sich etwas möchte. Nur wer im Streiten geübt und erfahren ist, wird dann Lösungen finden, die nicht durch Gewalt erzwungen werden oder Verachtung (auch sich selbst gegenüber) nach sich ziehen.

•          Zu einem gesunden Selbstwertgefühl, zu einer angemessenen Haltung sich selbst gegenüber gehört, Wünsche und Bedürfnisse zu haben, auch wenn sie nicht gleich oder gar nicht erfüllt werden können. „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ – dazu gehört immer auch die zweite Hälfte. Es ist längst kein Egoismus, auch an sich selbst zu denken, sich wichtig und ernst zu nehmen – jeder ist ein Kind Gottes! Genau das zeigen Kinder beim Streiten, und Erwachsene sollten es ihnen erlauben. Dann kann ein Kind auch wirklich lernen zu teilen und zu verzichten. Dagegen tragen ein „Nachgeben“, weil der Streit gescheut (oder verboten) wird, oder ein „fauler“ Kompromiss den Keim zum nächsten Konflikt schon in sich.

Viele Begegnungen zum Beispiel in der Eheberatung zeigen deutlich: Viele Menschen sind nicht konfliktfähig. Sie können nicht wirklich streiten, nach Lösungen suchen, die sowohl ihre als auch die Interessen anderer berücksichtigen. Sie haben keine Achtung vor sich oder sind so von sich eingenommen, dass sie vor dem anderen keine Achtung haben. Auf die Frage nach ihren Streit-Erfahrungen heißt es oft: „Streiten? Nein, streiten konnte ich nicht!“ Oder: „... durfte ich nicht, brauchte ich nicht …“ Den einen haben Erwachsene das Streiten verboten; sie mussten sich sozusagen auf Kommando einigen. („Jetzt gebt euch wieder die Hand und vertragt euch!“) Den anderen wurde jeder Wunsch erfüllt; was die Geschwister hatten, bekamen sie auch, sodass von allem genug und im Überfluss da war. Und wieder andere bekamen zu hören, dass Streitereien „unter unserem Niveau“ seien. Deshalb müssen Kinder streiten (dürfen). Dazu gehört auch, dass sie Streitvorbilder haben.

Wer sich über dieses oder jenes Verhalten seiner Kinder aufregt, schaut am besten einmal in den Spiegel:

Wie streite ich eigentlich selbst? Bei aller Wut, bei allem Zorn und bei allen Verletzungen, die ich aushalten muss, nicht nur an meine Würde zu denken und meinen Wert zu verteidigen, sondern auch die Würde des anderen zu achten – das ist eine Kunst, die unsere Kinder nicht früh genug üben können. Auch wenn es manchmal ganz schön nervt.

Alois Moos