Geschwister sind unersetzlich

Über Rivalitäten und Konflikte unter Schwestern und Brüdern reden alle. Und übersehen dabei ihre gegenseitige Faszination und eine Vielzahl von Lern- und Lebenschancen.

Geschwisterforschung in den Kinderschuhen

Wir teilten Geheimnisse. Wir stritten erbar­mungslos und machten gleich darauf ge­meinsam Front gegen andere, die den Bru­der oder die Schwester bedrängten – und seien’s auch die eigenen Eltern. Später, selbst Eltern, standen wir ratlos vor den Streitereien unserer Kinder und bekamen feuchte Augen vor Rührung, wenn das Einjähri­ge den Dreijährigen über den verlorenen Teddy tröstete.
Solche Situationen fallen Erwachsenen zum Thema „Geschwister“ ein; sie erlauben ihnen mitzureden, aber sie beleuchten nur einen kleinen Ausschnitt davon, was Geschwister füreinander bedeuten.
Auch wenn die Geschwisterforschung noch zu den Stiefkindern der Familienforschung gehört, so hat sie doch wichtige Erkenntnisse über die Be­deutung von Geschwistern für die kindliche Ent­wicklung zu Tage gefördert. „Sowohl Individuati­ons- wie Bindungsprozesse werden maßgeblich von familiären Erfahrungen, konkret von Eltern-Kind- und Kind-Kind-Beziehungen (primär Ge­schwister-Geschwister-Interaktionen) geprägt“, betont der Entwicklungspsychologe Jürg Frick.

Denn:

  • Schon Vorschulkinder verbringen mehr Zeit mit ihren Geschwistern als mit den Eltern.
  • Sowohl die Sprachentwicklung als auch das Nachahmungslernen gelingen unter altersna­hen Geschwistern am besten. Kindern fällt es nämlich leichter, sich an einem Vorbild zu ori­entieren, das in der Entwicklung noch nicht so fern ist wie die Eltern.

Ein besonders gutes Beispiel dafür sind Rollen­spiele. Die ständige Wiederholung im Ausprobie­ren von Alltagsepisoden oder auch von stereoty­pen Situationen überfordern und/oder langwei­len Eltern schnell; zudem fällt es vielen schwer, dabei nicht erzieherisch einzugreifen, wenn zum Beispiel die „Mutter“ pausenlos Wäsche wäscht, während der „Vater“ zur Arbeit geht.

Leben mit der Macht der Älteren

Kinder brau­chen jedoch für ihre gesunde Entwicklung kind­typische Spielsituationen und unbeobachtete Zeit des Irrtums.

  • In Konflikten lernen Kinder ohne elterliche Einmischung besser, wie sie auch aus der Posi­tion des Schwächeren heraus zu ihrem Recht kommen können und wann sie besser nachge­ben. Kinder streiten und verbünden sich mitei­nander und lernen so, wie sie auch Frust be­wältigen können.
  • Der Entwicklungsvorsprung und die Macht der Älteren spielen dabei eine bedeutende Rol­le. Aber diese Erfahrung bedeutet für Kinder, die mit Geschwistern aufwachsen, dass sie sich schneller in Kindergruppen zurechtfin­den und sich leichter in den Kindergarten ein­gewöhnen.
  • Die Intimität und Nähe unter Brüdern und Schwestern ermöglicht Erfahrungen, die in Kindergruppen nicht zu haben sind.

Einige Beispiele:

Ein Kind ist krank. Seine Geschwister erleben sein Leiden, sein nächtliches Aufwachen, Weinen und Bedürftigkeit und beobachten die Sorge und die Zuwendung der Eltern. Vielleicht beteiligen sie sich an der Pflege. Wenn sie selbst krank sind und von ihren Brü­dern oder Schwestern getröstet werden, erfahren sie das gleiche aus der anderen Perspektive. Das erleben Kinder nur in der Familie; es fördert Empathie und Fürsorgefä­higkeit, soziale und emotionale Kompetenz.

Sie kuscheln und sie prügeln sich

Geschwisterkinder können außerdem eine be­sondere körperliche Gemeinsamkeit erleben. Möglicherweise baden sie gemeinsam, kuscheln in einem Bett, raufen und prügeln sich hin und wieder. Dadurch erleben sie sich körperlich, ler­nen ganz natürlich eigene Grenzen und die des anderen kennen und erkennen außerdem den Körper des anderen mit seinen Besonderheiten wie Größe, Stärke und Geschlechtlichkeit.

In institutionellen Kontexten können Kinder solche Erfahrungen kaum machen, weil dort die pädagogischen Fachkräfte vorher eingreifen (müssen).

  • Geschwister sind aufeinander angewiesen und müssen sich arrangieren. Sie können sich kaum aus dem Weg gehen und müssen des­halb bei Konflikten eine Lösung finden; sie bleiben aneinander gebunden, ein Leben lang. Dagegen sind Freundschaften unter kleinen Kindern noch nicht sehr beständig; sie müssen gepflegt und „verdient“ werden und lassen sich viel leichter lösen, wenn sich Interessen auseinander entwickeln.
  • Geschwister lernen in der Familie, aufeinan­der Rücksicht zu nehmen und begrenzte Gü­ter miteinander zu teilen. Das fängt beim Nachtisch an und geht bis zur elterlichen Zu­wendung beim Vorlesen. Dabei entwickeln sie Frustrationstoleranz und Bewältigungsmecha­nismen. Sie lernen Gerechtigkeitsregeln ken­nen, Privilegien für die Älteren (später ins Bett gehen) und die Jüngeren (auf Papas Schoß sit­zen) auszuhalten, ihre eigenen Bedürfnisse zu­rückzustellen und sich selbst zu regulieren. In vielen kleinen, noch wenig schmerzhaften All­tagserlebnissen erfahren sie, wie es sich an­fühlt, Teil einer sozialen Gemeinschaft zu sein und einen eigenen Beitrag dazu zu leisten.
  • Besonders in größeren Familien gewinnen Kinder die Option, sich einmal an jenen zu richten und beim nächsten Mal mit einem an­deren zu verbünden. Das ermöglicht zusätz­lich einen Schutz vor Vereinnahmung durch die Eltern und hilft, Verstrickungen durch die Koalition gegen die Eltern abzuwehren.

Auch wenn diese Prozesse nicht auf Anhieb gelingen, von Konflikten begleitet sind und eigene Bedürfnisse dabei vorübergehend auf der Strecke bleiben können: Unter dem Strich bietet das Auf­wachsen mit Geschwistern die große Chance, eine Atmosphäre von Akzeptanz und Toleranz ge­wissermaßen mit der Muttermilch aufzuneh­men.

Angemessene Begleitung von Geschwister-Beziehungen durch Eltern

Allerdings ist es dafür entscheidend wichtig, dass die Eltern reflektiert und feinfühlig handeln und sich selbst und ihre Erziehung immer wieder hinterfragen. Auf der anderen Seite entlastet es Eltern erheblich, dass Geschwister vieles unterei­nander regeln. Viele Beobachtungen und Studien belegen zum Beispiel, dass Geschwister oft friedli­cher miteinander agieren, solange ihre Eltern nicht dabei sind, und dass viele Konkurrenz- und Streitsituationen erst eskalieren, wenn Mutter oder Vater dazukommen.
Sicherlich entwickelt sich nicht jede Geschwis­terbeziehung harmonisch. Es gibt auch Streithäl­se und Geschwister, die sich nicht so nahe stehen; aber auch das ist letztlich eine Erfahrung, die eine Vorbereitung auf spätere soziale Beziehungen bedeutet. Zu einer angemessenen Begleitung von Geschwister-Beziehungen gehört, dass Eltern einerseits auch Trauer und Wut zulassen und je­dem Kind andererseits die Erfahrung ermögli­chen, den ihm zustehenden Platz in der Familie zu bekommen; Bevorzugungen und Parteinah­men stören dabei nur. So kann eine gute Ge­schwisterbeziehung wachsen.

Der Zauber der kleinen Rivalen

Demgegenüber hat die Geschwisterforschung bisher viel zu einseitig die negativen Nebenwir­kungen des Geschwisterlebens in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Das gilt vor allem für die allererste Entwicklungsphase rund um die Ge­burt des zweiten Kindes, die von populären Ratge­bern fast ausschließlich als „Entthronung“ des Erstgeborenen und damit als konflikthaft be­schrieben wird. „Profis“, die in der Elternbera­tung zwangsläufig bevorzugt die kritischen Mo­mente von Familienleben in den Blick nehmen (müssen), verstellen mit ihren allfälligen War­nungen vor der drohenden Geschwister-Eifer­sucht den Blick auf den Zauber, der für ältere Kin­der mit der Geburt jüngerer Geschwister verbun­den ist. „Wenn man Kleinkinder im Kontakt mit Säuglingen beobachtet, finden sich viele Ähnlich­keiten zu ihrem Umgang mit Tieren“, notiert der Psychotherapeut Horst Petri. Das meint: Kleinst­kinder verhalten sich auf gewisse Weise „primi­tiv“ und ursprünglich, noch ohne kulturelle Prä­gung; sie setzen ihre Bedürfnisse völlig frei und ungehemmt durch. Das, so Petri, fasziniert ältere Geschwister: „Für ein Kind, das die ersten Sporen der Kultur aufgedrückt bekommen hat, wird das Baby zum Spiegel seiner zum Teil bereits aufgege­benen primären Natur.“ Das Baby ist „unerzo­gen“. Wenn Drei- oder Vierjährige nach der Ge­burt jüngerer Ge­schwister deren babyhaftes Verhalten nachahmen, ist das also keine Regressi­on, kein beängstigender Rückfall, der Eltern Sor­gen machen müsste. Vielmehr zeigt sich darin eine primäre Naturverbundenheit unter Ge­schwistern. Ihre Liebe untereinander entsteht nicht in erster Linie als reine Nachahmung durch Identifikation mit der Mutter, sondern durch eine einzigartige Wiederbegegnung der Kinder mit ihrer ursprünglichen Natur.

Chancen bis ins hohe Alter

Geschwisterschaft ist also etwas Besonderes. Last not least: Wir wissen, dass die Zufriedenheit von Kindern mit ihrer Familie durch Geschwister wächst; die ganz unterschiedlichen Bindungsqua­litäten zu Geschwistern gehören dazu und dürfen auch sein. Das Paar, die Kinder, die Familie: Jede Konstellation hat eigene Regeln und Verpflich­tungen; das erfahren Kinder, die mit Geschwis­tern aufwachsen, am natürlichsten und als alltäg­liche Selbstverständlichkeit.
Geschwisterschaft ist ein Geschenk, das heute nur noch jedes zweite Kind in der frühen und mittleren Kindheit erfährt; jedes fünfte bleibt dauerhaft ein Einzelkind. Keine Frage: Auch Ein­zelkinder entwickeln sich gesund und haben vie­le Vorteile. Aber im Lebenslauf gehen ihnen mit der Zeit Verwandtennetzwerke verloren. Wo Ge­schwister fehlen, da fehlen in der nächsten Gene­ration auch Tanten und Onkel, Cousins und Cou­sinen, Nichten und Neffen. Zwar entwickeln sich auch viele Geschwister mit dem Eintritt ins Be­rufs- und Eheleben (zeitweise) auseinander; sie haben aber zumindest die Chance, später wieder dichter zusammenzurücken, sich bei der Pflege ihrer alt gewordenen Eltern gegenseitig zu entlas­ten und der drohenden Vereinsamung im Alter vorzubeugen. Auch das wäre eine Geschichte, die die Geschwisterforschung erst noch entdecken müsste.

Inès Brock