Ganz ähnlich und ganz anders
Warum Geschwister manchmal nicht mehr gemeinsam haben als Kinder aus verschiedenen Familien. Und warum die einen sich innig lieben und andere heftig aneinander leiden.
Elf Kinder hätten ihre Eltern großgezogen, fünf Söhne und sechs Töchter, erzählt eine schwarzafrikanische Frau ihrer Therapeutin. Und dann berichtet sie von einer sehr wichtigen Familienangelegenheit, in der eine Schwester nach der anderen auftaucht. Die Therapeutin verliert dabei immer mehr den Überblick – beim Nachzählen kommt sie inzwischen auf weit mehr als fünf Schwestern… „Ach wissen Sie“, erklärt ihre Klientin auf die verwunderte Nachfrage, „bei uns gibt es viel mehr Geschwister als die Kinder der eigenen Eltern. Auch die Kinder der Tanten sind meine Geschwister, und manchmal auch die von der Nachbarin.“
Geschwister: Wer ist das?
Tatsächlich gelten bei den meisten Gesellschaften auf der Erde auch Cousinen und Cousins als Geschwister. Und auch die Mitteleuropäer, die den Begriff „Geschwister“ traditionell enger fassen – das Duden-Bedeutungswörterbuch zum Beispiel definiert Geschwister als „Kinder derselben Eltern“ – gewöhnen sich allmählich an neue Facetten. Der gesellschaftliche Trend zu Scheidungen und Zweit-Ehen, Adoptionen und verschiedene Arten von Pflegeverhältnissen bringen Stiefgeschwister, Halbgeschwister, Adoptivgeschwister, Pflegegeschwister hervor. Trotzdem wachsen immer weniger Kinder mit Geschwistern auf. Um 1900 hatte die statistische Normalfamilie in Mitteleuropa noch fünf bis sechs Kinder, in den 50er Jahren waren es nur noch zwei, heute weniger als 1,5 Kinder.
Geschwister: Was macht sie ähnlich?
Geschwister (im herkömmlichen Sinn) verfügen durchschnittlich über 50 Prozent gemeinsame Gene und sind, wenn sie gemeinsam aufwachsen, großenteils denselben Einflüssen aus der Umwelt ausgesetzt. Auch die Identifikation mit den Eltern und/oder einem älteren gleichgeschlechtlichen Geschwister kann charakterliche Ähnlichkeiten zwischen zwei Geschwistern verstärken.
Eine weitere Erklärung für Ähnlichkeiten von Geschwistern gibt der Bindungsforscher John Bowlby. Nach seiner „attachment theory“ erarbeiten Kinder sich schon während des ersten Lebensjahres kognitive Strukturen sowie Arbeits- und Organisationsmodelle für ihr Verhalten, die überwiegend unbewusst und stabil gegenüber Veränderungen sind. Diese „inneren Arbeitsmodelle von Bindung“ haben meist alle Geschwisterkinder einer Familie mehr oder weniger gemeinsam.
Geschwister: Was unterscheidet sie?
Trotzdem unterscheiden sich Geschwister weit stärker, als diese gemeinsamen Voraussetzungen erwarten ließen. Sie sind sich nicht ähnlicher als zufällig ausgewählte, nicht verwandte Kinder, gleichen Alters, die in der gleichen Umwelt aufwachsen. Mehr noch: Eineiige Zwillinge, die zusammen aufwachsen, entwickeln mehr Unterschiede, als wenn sie getrennt voneinander aufwachsen! Es scheint, dass die gemeinsame familiäre Umwelt Geschwister eher in verschiedene Richtungen lenkt. Dafür gibt es eine Vielzahl von Erklärungsansätzen.
- Die Nischenbildung: Unter Geschwistern gilt genauso wie anderswo im Zusammenleben von Menschen: Je mehr sie sich spezialisieren, je weniger sich ihre Interessen und Ambitionen überlappen, desto weniger Konkurrenz und Aggression entwickelt sich zwischen ihnen. Dass Geschwister sich in der Familie eine eigene, individuelle Nische suchen (und folglich voneinander unterscheiden), hält der Schweizer Paar- und Familientherapeut Jürg Willi deshalb für eine (gelungene) Strategie der „koexistierenden Konkurrenz“. Ähnlich sieht das der Heidelberger Beziehungsforscher Manfred Cierpka: „Wahrscheinlich ist, dass sich das Kind das für seine Reifung günstigste Beziehungssubsystem aussucht und die Familie dieses System intuitiv auch zur Verfügung stellt.“ Frank J. Sulloway, der sich intensiv mit den Auswirkungen der Geburtenfolge von Geschwistern beschäftigte, sieht in dieser Nischenbildung eine Ableitung aus dem Darwin’schen Divergenzprinzip: „Überall in der organischen Natur ist die Ausprägung von Unterschieden eine nützliche Strategie, wenn Arten um knappe Ressourcen konkurrieren.“ Wobei die knappen Ressourcen im Fall von Geschwistern vor allem die begrenzten Zuwendungsmöglichkeiten der Eltern sind.
- Die Rolle in der Familie: Kinder brauchen die Aufmerksamkeit der Eltern und finden sie, indem sie ganz verschiedene Rollen übernehmen. Eltern charakterisieren ihren Nachwuchs dann zum Beispiel so: „Der Markus ist ein geborener Professor.“ Oder: „Auf Anna ist Verlass, sie macht ihre Sache gut. Aber die Lisa kommt überall zu spät.“ Das heißt: Markus hat gelernt, die Aufmerksamkeit der Eltern mit seinen intellektuellen Fähigkeiten zu gewinnen, Anna mit ihrer Zuverlässigkeit. Dagegen hat Lisa für sich offensichtlich keine positiv bewertete Nische gefunden; also kämpft sie um die notwendige Aufmerksamkeit der Eltern, indem sie negativ auffällt. Schon der Wegbereiter der Kinderpsychotherapie, Donald Winnicott, sagte: „Für die fünf Kinder der Familie gibt es fünf verschiedene Familien.“ Jedes (Geschwister-)Kind erlebt seine Familie anders. Gleichzeitig, so hat der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter beobachtet, scheinen Eltern eigene Geschwistererlebnisse und -konstellationen unbewusst auf ihre Kinder zu übertragen und dadurch die Entwicklung unterschiedlicher Rollen zu fördern.
Geschwister: vor allem Rivalen?
In dem Drama der menschlichen Entwicklung, das die großen Psychotherapie-Schulen im Gefolge von Sigmund Freud, C.G. Jung und anderen entworfen haben, spielen Geschwister meist eine untergeordnete Rolle. Sie widmeten sich vor allem der „Vertikale“ in den menschlichen Beziehungen: Kinder – Eltern – Großeltern… Der „Ödipuskomplex“ in der analytischen Sicht und die Mehrgenerationenperspektive der Familientherapeuten belegen das nachdrücklich. Wenn Geschwister in dieser Perspektive überhaupt auftreten, dann eher als Rivalen um die Gunst der Eltern und als Konkurrenten im Kampf um Aufmerksamkeit, Zuwendung und Liebe.
Demgegenüber zeugen die biblischen Geschichten und auch die Märchen von einem breiteren Verständnis der menschlichen Entwicklung. Gleich nach Adam und Eva folgt die Geschichte des Geschwister Kain und Abel, auf die Vater-Sohn-Geschichte von Abraham und Isaak die Brüder-Geschichte von Esau und Jakob. Auch die Märchensammlungen sind reich an Beispielen geschwisterlicher Entwicklung: Hänsel und Gretel, Brüderchen und Schwesterchen, Aschenputtel, Goldmarie und Pechmarie, Die drei Brüder…
Die Beziehung und Entwicklung von Geschwistern lässt sich nicht allein aus ihrer Rivalität um die Gunst der Eltern erklären. Für den Kinder- und Familientherapeuten Hans Sohni gehört dazu auch ihre „komplementäre Bezogenheit“: „Eine dialektische Sicht entsteht aber erst, wenn Geschwister in ihrer Verschiedenheit als aufeinander bezogen verstanden werden. Dieses wechselseitige Partizipieren zwischen zwei oder mehreren Geschwistern im Unterschiedlichen verstehe ich als unbewussten psychodynamischen Austausch und spreche von der komplementären Bezogenheit zwischen Geschwistern.“ In ein plastisches Bild hat Kurt Tucholsky das gebracht in seiner viel zitierten Antwort auf die Frage: „Was unterscheidet Geschwister von wilden Indianerstämmen? Wilde Indianer sind entweder auf Kriegspfad oder rauchen Friedenspfeife. Geschwister können gleichzeitig beides.“
Geschwister: Hass oder Liebe?
Für den Psychotherapeuten Horst Petri ist Geschwisterliebe etwas Ursprüngliches, das aus autonomen Quellen entsteht. Wirkliche Geschwisterliebe komme nämlich gerade dann zum Tragen, wenn die Mutterliebe ausbleibt. Auch dafür sprechen Märchen wie „Hänsel und Gretel“. Sie schildern einerseits eine restriktive, hasserfüllte Mütterlichkeit, symbolisiert durch die Mutter, die ihre Kinder in den Wald und in den Tod jagt, und andererseits eine verwöhnende und verschlingende Mütterlichkeit, symbolisiert durch die mit Süßigkeiten lockende Hexe. Rettung in der Not erwächst den Geschwistern aus ihrer gegenseitigen Liebe und Unterstützung.
Allerdings kann Geschwisterliebe als primäre Bezogenheit in ihr Gegenteil, in Geschwisterhass umschlagen, wenn in Familien pathologische Verhältnisse herrschen. Bestimmte elterliche Verhaltensmuster erweisen sich dabei als besonders schädlich für die Entwicklung des einzelnen Kindes und der Geschwisterbeziehung: die Parentifizierung oder die Delegation. (Parentifizierung meint eine Umkehr der Hierarchie in der Familie – das Kind übernimmt Verantwortung für das Wohl der Eltern in wichtigen Belangen. Delegation meint meist unbewusste „Aufträge“ der Eltern, die ihr Kind überfordern, d. Red.) Dabei droht, so Petri, dem Lieblingskind der Eltern sogar eher eine neurotische Entwicklung als seinen Geschwistern.
Tote Geschwister
Gravierende Nachteile erleiden Kinder oft auch, wenn ihre Eltern ihnen die Rolle eines „Ersatzkindes“ zuweisen. Die Biographien vieler großer Frauen und Männern zeugen davon, zum Beispiel Vincent Van Gogh: Er erhielt denselben Namen wie sein älterer Bruder, der am Tag seiner Geburt gestorben war – exakt ein Jahr vor Vincents Geburt. Als Sohn eines Pastors wuchs er neben dem Friedhof auf, auf dem sein Bruder begraben lag. Er bezeichnete sich selbst als „sekundär“, „nur gut als Vertreter“, nicht für sich selbst genügend. Ersatzkinder werden ständig verglichen mit dem idealisierten toten Geschwister. „Das Introjekt (in diesem Fall: die innere Vorstellung vom toten Geschwister, d. Red.), das im Kind entsteht, (trägt) den Charakter des Unheimlichen,“ warnt der Psychiater und Psychoanalytiker Mathias Hirsch. So droht dem Ersatzkind eine lebenslange Suche nach der eigenen Identität und jener des toten Geschwisters.
Neue Geschwisterbeziehungen
Ganz besondere Schwierigkeiten müssen Geschwister in den „neuen Familien“ bewältigen, zu denen (unter anderen) Ein-Eltern-Familien, Stieffamilien, Adoptivfamilien, Patchwork-Familien oder Schwule und Lesben mit Kindern gehören. Noch viel mehr als in den traditionellen Familien sind die Beziehungen von Stief-, Halb- oder Adoptivgeschwistern untereinander abhängig von Fähigkeit oder Unfähigkeit der Eltern, sich auf die Bedürfnisse der Kinder einzustellen. Sie brauchen die Bereitschaft der „neuen“ Eltern, ihre Kinder in einem Durcheinander von Beziehungen bei der Suche nach einer für sie gültigen Vorstellung von Familie zu unterstützen; dazu gehört auch die Klärung ihrer Beziehungen zu „weggetrennten“ oder „-geschiedenen“ Elternteilen und Geschwistern. Erst auf dieser Grundlage können ihnen aus dem Erleben der „neuen“ Geschwisterbeziehungen auch neue Kräfte zuwachsen.
Irma und Hans-Rudolf Müller-Nienstedt