Zeit für Familie – Notwendigkeiten und Wege für eine neue Zeitpolitik
Familien sind gelebte Beziehungen. Jede Beziehung braucht Zeit füreinander. Eine familiengerechte Zeitpolitik ist ein Gebot unserer Zeit.
Familien in Zeit-Not
Geld, Infrastruktur und Zeit – das ist der Dreiklang, den die Bundesregierung im „Siebten Familienbericht“ für eine erfolgreiche Familienpolitik propagiert. In der Praxis hat sich die Politik der zentralen Aufgabe „Zeit für Familie“ viel zu lange verschlossen. Treffend wird im Siebten Familienbericht festgestellt, dass Eltern in zunehmendem Maße Zeitprobleme empfinden, und in Familien eine „gefühlte Zeitnot“ existiert. „Zeitprobleme ergeben sich für Familien nicht alleine aus einem unzureichenden quantitativen Zeitbudget, sondern ebenso aus einer unzureichenden Qualität von Zeit, d. h. aus Belastungen, die Zeitdruck und Verdichtung von Zeit, Parallelaktivitäten und Synchronisationsprobleme, Fremdbestimmtheit und mangelnde Zeitsouveränität u. a. m. umfassen.“ (Siebter Familienbericht, S. 229)
Familie ist nur lebbar, wenn die Mitglieder einer Familie gemeinsame Zeit miteinander auch erleben können. Denn es geht in Familien nicht um ein reibungsloses zeitliches Nebeneinander von Individuen, sondern um persönliche Zuwendung und gemeinsame Erfahrungen. Um dies zu ermöglichen, bedarf es einer aktiven Koordination und Synchronisation auf unterschiedlichen Ebenen.
Familienzeit und Erwerbsarbeit
Beeinflusst wird die innerfamiliäre Zeitgestaltung maßgeblich von den Zeitanforderungen, die von außen auf die einzelnen Familienmitglieder wirken: Schulzeiten, Öffnungszeiten von Geschäften und öffentlichen Einrichtungen – aber in ganz besonderem Maße die Zeiten für die Erwerbsarbeit. Denn die Erwerbsarbeit ist wie kein anderer Bereich prägend für das Familienleben. Dies gilt nicht nur in quantitativer Hinsicht, weil der Umfang der Arbeitszeit den gesamten Tages- und Wochenablauf dominiert. Auch durch die zunehmend flexibel gestaltete Lage und Verteilung der Arbeitszeit bestimmt die Erwerbsarbeit die Zeitgestaltung von Familien.
Zeitkonflikte sind immer dann besonders spürbar, wenn Arbeitszeiten unfreiwillig und als Vorgaben durch den Arbeitgeber die üblichen Standards verlassen und nicht mit den familialen Belangen abgestimmt werden können. Der Eindruck, dass Familie die zeitliche Verfügungsmasse der Arbeitswelt ist, ist nicht unbegründet. „Die durch Kinder unbehinderte Arbeitszeit der Eltern genießt allgemeine Anerkennung und staatliche Förderung. Die durch Arbeit unbehinderte Familienzeit muss noch entdeckt – und geschützt werden“, stellt die Journalistin Iris Radisch fest und fordert zurecht „eine Familienzeit, die ihre eigene Logik gegen die der Arbeitswelt behaupten kann“. (Radisch, Iris: Die Schule der Frauen. Wie wir die Familie neu erfinden, München 2007, S. 182). Was kann für einen besseren Schutz von Familienzeiten konkret getan werden?
Rahmenbedingungen für Familienzeit
Zunächst geht es um geeignete gesetzliche, tarifvertragliche und betriebliche Rahmenbedingungen zur Absicherung der zeitlichen Gestaltungsfreiheit. Rechtliche Rahmenbedingungen geben entscheidende Richtmaße vor: Von der EU-Arbeitszeit-Richtlinie und dem Arbeitszeitgesetz über das Teilzeit- und Befristungsgesetz, das Elternzeitgesetz, das Pflegezeitgesetz bis hin zu den Regelungen von Ladenöffnungszeiten. Dass um Schutzräume immer auch wieder mühsam gerungen werden muss, zeigt die Debatte um die Öffnung von Geschäften am Sonntag. Die erfolgreichen Verfassungsbeschwerden der Kirchen sowie die Bemühungen der Familienverbände, der Gewerkschaften und anderer Verbände um einen arbeitsfreien Sonntag weisen auf die essentielle Bedeutsamkeit des Sonn- und Feiertagsschutzes für Familien hin (vgl. www.allianz-fuer-den-freien-sonntag.de).
Rechtliche Bestimmungen können allerdings nur dann Wirkkraft entfalten, wenn sie in der Praxis tatsächlich „gelebt“ werden. Wie sieht also der betriebliche Alltag aus? Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Rechtsansprüche, beispielsweise die Freistellung zur Pflege eines kranken Kindes, oftmals nicht in Anspruch genommen werden. Die Unternehmenskultur ist hier entscheidend. Drohen Nachteile für die eigene berufliche Zukunft, unterbleibt in der Regel das Einfordern bestehender Rechte. Es liegt daher in der Verantwortung der Unternehmen, die bestehenden gesetzlichen Angebote aktiv in der Belegschaft bekannt zu machen und für ein Klima zu sorgen, dass gesetzliche Angebote bei Bedarf auch wahrgenommen werden.
Unternehmen sind aber auch gefordert, eigene, betriebsspezifische Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie anzubieten. Nachdem familienpolitische Themen verstärkt Einzug in die öffentliche Debatte gehalten haben, hat nun auch die Wirtschaft begonnen, Familienpolitik für sich zu entdecken. Immer mehr Unternehmen bieten Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie an. Das ist eine begrüßenswerte Entwicklung, die allerdings noch sehr an zusätzlicher Dynamik gewinnen muss.
Was Familien brauchen
Bei der Suche nach tragfähigen Konzepten ist zu beachten, dass Familien – wie die Unternehmen auch – verlässliche und flexible Zeitstrukturen benötigen, um planbar und den wechselnden Anforderungen entsprechend handeln zu können.
- Familien benötigen anerkannte zeitliche „Spielräume“, innerhalb derer sie flexibel auf die familienbedingte Anforderungen reagieren können. Betriebliche Angebote wie zum Beispiel Gleitzeit, Vertrauensarbeitzeit, Arbeitszeitkonten und alternierende Telearbeit eröffnen hier die entsprechende Flexibilität für die Beschäftigten.
- Familien benötigen aber auch anerkannte zeitliche „Schutzräume“, innerhalb derer sie mit entsprechender Planungssicherheit disponieren können. Hier unterstützen Mutterschutzzeiten, Freistellungen für die Pflege von Kindern und älteren Familienangehörigen, die Möglichkeit eines „Sabbaticals“ oder Angebote wie die so genannte „Kinderbonuszeit“, bei der Beschäftigten mit Kindern Arbeitsstunden gutgeschrieben werden, so dass sie bei gleich bleibendem Lohn monatlich weniger Arbeitszeit leisten müssen und mehr Zeit für die Familie haben.
- Bei allem betrieblichen Engagement ist darauf zu achten, dass tatsächlich mehr Zeit für die Familie ermöglicht wird. Betriebliche Angebote wie zum Beispiel Babysitter-, Einkaufs- und Bügelservice, Eltern-Kind-Büro und Betriebskita entlasten zwar Beschäftigte mit Familienpflichten, dienen aber grundsätzlich noch nicht dazu, gemeinsam mit der Familie Zeit zu verbringen. Entlastet von möglichst vielen familiären Verpflichtungen, stehen die Arbeitskräfte mit Hilfe solcher Angebote zunächst nur den Unternehmen möglichst sorgenfrei und ohne andere Verpflichtungen zur Verfügung. Eine wirkliche Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist dies nicht, da Familie hier quasi „outgesourct“ wird. Nicht die wirtschaftsfreundliche Familie, sondern die familienfreundliche Wirtschaft muss letztes Ziel einer familiengerechten Zeitpolitik sein.
- Schließlich darf die individuelle Befähigung zum guten Umgang mit Zeit nicht unerwähnt bleiben. Angebote der Eltern- und Familienbildung können beitragen, Zeitkompetenzen von Familien zu stärken und Wege aufzuzeigen, wie trotz aller Belastungen und Widerstände ein Mindestmaß an Freiräumen gesichert werden kann. Der Staat ist gefordert, entsprechende Angebote zu fördern und zu unterstützen.
Familien sind gelebte Beziehungen. Jede Beziehung braucht Zeit füreinander. Eine familiengerechte Zeitpolitik ist ein Gebot unserer Zeit.
Stefan Becker