Die andere Arbeit
Gutes Leben: Für die allermeisten gehört dazu unbedingt ein Arbeitsplatz. Im Umkehrschluss hieße das: Ohne (Erwerbs-)Arbeit kein gutes Leben. Wirklich?
Die einen verzweifeln, weil sie keine Arbeit (mehr) haben. Arbeitslos zu sein, das heißt in der modernen „Arbeitsgesellschaft“: Ein zentraler Lebensinhalt fehlt; so empfinden es auch die Betroffenen selbst. Auch wenn ein „soziales Netz“ ihren Lebensunterhalt noch einigermaßen sichert, haben viele das Gefühl: Mein Leben wird mir enteignet. Ich bestimme nicht mehr selbst über mein Leben, sondern ich bin abhängig von anonymen Instanzen.
Hier die Arbeit, da das Leben?
Anderen, die (noch) ihrer Arbeit nachgehen können, hadern in wachsendem Maße damit, dass sie keinen Bezug zur eigenen Arbeit mehr finden. Sei es, dass sie in äußerst komplexen Arbeitsabläufen die Bedeutung des eigenen Beitrags nicht mehr sehen, sei es, dass sie ihrer Arbeit selbst keine Bedeutung zumessen und sie nur als äußerlichen Job betrachten, um Geld zu verdienen. Genau in diesen Spalt nistet sich oft die Erfahrung von Sinnlosigkeit ein. Wer ohne Sinn lebt, wird zynisch, verachtet die Welt und sich selbst, hasst sich für das, was er tut – eine Art von Selbst-Sabotage.
Die Arbeit ist offenkundig der wunde Punkt der modernen Gesellschaft. Sie ist nicht nur die Grundlage, die die materiellen Voraussetzungen schafft, den Lebensunterhalt zu bestreiten. Viele, die keine Arbeit (mehr) haben oder keinen Sinn darin erkennen, empfinden plötzlich ihr ganzes Leben als sinnlos: kein Zusammenhang der Arbeit, keiner zwischen Arbeit und Leben, keiner im Leben. Selbst hartnäckiges „positives Denken“ hilft über diese Leerstelle nicht hinweg.
Schlecht entlohnt, aber lohnend
Wie weit Arbeit, Leben und Sinn auseinander gedriftet sind, verrät die modische Rede von der „Work-Life-Balance“. Es gelte, Arbeit und Leben, Anstrengung und Genuss, Beruf und Familie, Sinnloses und Sinnvolles zu vereinbaren, auszugleichen, auszubalancieren. Die Notwendigkeit und Schwierigkeit, diese Aufgabe zu meistern, verweist auf das eigentliche Problem, das zugrunde liegt: Die Arbeit wird nicht mehr als Bestandteil eines sinnvollen Lebens wahrgenommen – andernfalls wäre es ja überflüssig, einen „Ausgleich“ zu schaffen.
Das Problem liegt also im Verständnis von „Arbeit“; folglich könnte die Lösung in einem anderen Verständnis von „Arbeit“ zu finden sein. Denn was ist Arbeit? Die Antwort scheint auf der Hand zu liegen: eine Stelle haben, eine Aufgabe gemäß Stellenbeschreibung erfüllen, um vom Ertrag leben zu können. Doch das ist nur das in der Industriegesellschaft entstandene moderne Verständnis. Arbeit ließe sich auch anders, umfassender definieren: als all das, was ich in Bezug auf mich und mein Leben leiste, um ein schönes und bejahenswertes Leben führen zu können. Jede Aufmerksamkeit und jeder Aufwand an Kraft dafür wäre dann Arbeit, körperlich, seelisch, geistig.
Die Muße zum Andersdenken
Dieses andere Verständnis bringt Arbeitsfelder in den Blick, die bisher eher missachtet wurden. Dennoch sind sie von großer Bedeutung, für jede(n) einzelne(n) wie für die Gesellschaft insgesamt.
- Die Arbeit an sich selbst um einer „Selbstbefreundung“ willen: Diese Arbeit ist jedem Menschen vollkommen zu eigen, ihr kann er sich ganz und gar widmen. Sich mit sich zu befreunden erfordert, die widerstreitenden Wünsche und Ziele in sich selbst in ein gedeihliches Verhältnis zu bringen, sie im Idealfall zur spannungsvollen Harmonie zusammenzuspannen: das Denken und Fühlen, den Freiheitsdrang und das Bedürfnis nach Bindung, die männliche und die weibliche Seite in ein und demselben Menschen. Die Arbeit an sich selbst stellt die Voraussetzung für alle weiteren Arbeiten dar und durchdringt sie. Die Selbstfreundschaft ist nicht (nur) ein Selbstzweck, sondern die unverzichtbare Grundlage für die Zuwendung zu anderen. Denn wer zu sich selbst kein sinnvolles Verhältnis hat, kann auch zu anderen keines eingehen; er/sie ist ja viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Wer dagegen mit sich befreundet ist, kann auch anderen ein Freund sein.
- Die Arbeit an Freundschaft: Moderne Menschen müssen diesen Aufwand bewusst leisten, um engere Bindungen zu anderen neu zu begründen. Nur mit einem guten Freund gelingen die Gespräche, auf die es im Leben so sehr ankommt, in denen es darum geht, das Leben zu deuten und zu interpretieren, Geschehnisse, Begegnungen und Erfahrungen miteinander zu klären und Schlüsse daraus zu ziehen.
- Die Familienarbeit: Sie besteht darin, die engsten Beziehungen zu pflegen, das schwierige Zusammenleben zu organisieren, die Hausarbeiten zu erledigen, den gemeinsamen Rhythmus fürs Leben zu finden, den familiären Alltag zu bewältigen, Kinder zu erziehen. Familie gibt es heute kaum noch aufgrund von Tradition, Konvention oder gar Religion, sondern fast ausschließlich auf der Grundlage einer freien Wahl der Beteiligten. Für diese Wahl gibt es gute Gründe, insbesondere die Verwirklichung von Werten wie Geborgenheit, Vertrautheit, Liebe, und schließlich die Weitergabe von Leben, die die meisten als schön und bejahenswert empfinden. Die Mühe, die das Zusammenleben zuweilen macht, wird reich entlohnt; Menschen, die in familiären Bindungen leben, noch dazu mit Kindern, stellen sich in aller Regel die Frage nach dem Sinn des Lebens nicht mehr. Das Leben in Familie und mit Kindern ist Sinn genug.
- Die Bürgerarbeit: Sie beginnt mit der Gestaltung der Begegnung mit anderen im Alltag. Denn bereits morgens, wenn wir das Haus verlassen, begegnen wir anderen, und niemand kann behaupten, dass es gleichgültig sei, dabei in abweisende Gesichter zu blicken. Machen wir uns Gedanken darüber, wie unser eigenes Gesicht für andere aussieht? Das ist die banale, alltägliche Ebene der Bürgerarbeit. Die anspruchsvollere, weniger alltägliche ist das Engagement im so genannten „dritten Sektor“ der Gesellschaft neben Staat und Privatwirtschaft – soziale Dienste zu leisten, Selbsthilfe zu organisieren, jede(r) so, wie sie oder er kann. Materiell ist dabei wenig zu verdienen, ideell jedoch umso mehr: Viele erfahren den Sinn von Arbeit und Leben vor allem bei dieser Arbeit, die schlecht oder überhaupt nicht entlohnt wird. Vielleicht – weil sie die Freiheit der Arbeit hier am stärksten erfahren können.
- Die Muße als Arbeit: Das mag auf den ersten Blick kurios erscheinen. Doch Arbeit ist keineswegs nur ein Tun, sondern ebenso ein Lassen, nicht nur Aktivität, sondern auch Passivität. Unsere moderne „Arbeitsgesellschaft“ hat diesen Gedanken derart vernachlässigt, dass kaum jemand noch zur Besinnung kommt und Zusammenhänge zu sehen vermag. Die Kultur der Moderne legitimiert allein den Aktivismus, ein Handeln um des Handelns willen. Doch es erscheint sinnvoll, sich versuchsweise auch auf einen gelegentlichen Passivismus einzulassen, und sei es nur für eine Stunde oder Viertelstunde jeden Tag. Diese Zeiten der Muße werden zu Zeiten des Nachdenkens über den Sinn der Erfahrungen des Tages wie auch den Sinn weit darüber hinaus. Die Muße ist, ergänzend zum tätigen Leben, die geistige Lebensform, in der sich das Denken und schließlich ein anderes Denken entfalten kann, nicht zielorientiert, nicht nützlich im unmittelbaren Sinne. Es ist gerade dieses Denken, das als unerschöpfliche Ressource des Überdenkens, Nachdenkens, Andersdenkens, Neudenkens bei der Orientierung des Lebens und auch der Arbeit im engeren Sinne helfen kann.
Arbeit an sich selbst, Arbeit an Freundschaft, Familienarbeit, Bürgerarbeit, Arbeit als Muße:
Eingebettet in diese anderen Arten von Arbeit erscheint auch die Erwerbsarbeit in einem anderen Licht. Sie wird deswegen keineswegs unbedeutend; aber sie gewinnt einen anderen Bezug zum eigenen Leben, wenn sie als Teil der Arbeit an sich selbst verstanden wird. Natürlich geht es immer ums Geldverdienen. Aber was wäre, wenn die Ressourcen dafür nicht mehr zur Verfügung stünden? Sie werden nur durch die anderen Arbeiten geschaffen; allein das verbietet es schon, sie zu missachten. Und im äußersten Fall, wenn die Erwerbsarbeit verloren geht, fallen die Betroffenen nicht mehr im selben Maße ins Nichts.
Diese Überlegungen sind kein Plädoyer dafür, Arbeitslosigkeit zu verharmlosen oder gesellschaftlich einfach nur hinzunehmen. Aber sie könnten helfen, die Betroffenen nicht gänzlich ratlos mit ihrem Leben allein zu lassen. Auch wo die Erwerbsarbeit verloren geht, bleiben die anderen Formen von Arbeit erhalten. Das mag als schwacher Trost erscheinen, kann aber lebensrettend sein.
Statt Arbeit und Leben getrennt zu sehen und eine Balance dazwischen zu suchen, kommt es also eher darauf an, einen umfassenderen Begriff von Arbeit zu gewinnen: die Lebensarbeit, in der die verschiedenen Aspekte von Arbeit integriert sind. Lebensarbeit stellt die übergreifenden Zusammenhänge wieder her, die die fatalen Konsequenzen eines allein ökonomisch bestimmten Arbeitsbegriffs überwinden: Arbeit ist nicht bloße „Güterproduktion“ oder lediglich „entlohnte Tätigkeit“, sondern ein Akt der Gestaltung des Lebens. Die ars laborandi ist Bestandteil der ars vivendi. Für jede Arbeit gilt der Grundsatz, dass durch das Arbeiten der Mensch selbst bearbeitet wird. Die Arbeit an etwas, die Art und Weise der Arbeit, die Haltung, mit der gearbeitet wird: All das wirkt auf das Selbst zurück, so sehr, dass auch Charakter-Eigenschaften davon geprägt und verändert werden. Das geschieht in jedem Fall; die Frage ist nur, ob es auch so verstanden wird: Arbeit als Möglichkeit, sich zu üben und durch diese Übung und Gewöhnung sich selbst zu gestalten.
Wilhelm Schmid